Aus einer fernen Vergangenheit
Jerusalem [ENA] Bekannt war bislang nur, dass in Kelheim, einer niederbayerischen Kleinstadt an der Donau, während des Mittelalter eine jüdische Gemeinde existierte. Genauere Details, wie der Verbleib von Synagoge, Mikwe oder Friedhof galt als unbekannt. 1338 wurden sie Opfer eines Massakers.
Im Jahr 1338 wurde den Juden in Deggendorf Hostienschändung vorgeworfen wurde und man ermordete die Juden des Ortes. Der erlogene Hostienfrevel löste eine regelrechte Welle von blutigen Judenverfolgungen aus, die auch Kelheim erfasste. Der bayerische Herzog Heinrich XIV verzieh den Deggendorfern den Mord Juden. Er erlaubte ihnen, alles geraubte Gut zu behalten und erklärte alle bestehenden Kredite für getilgt. Hier zeigt sich das Motiv: das Pogrom stand offenbar im Zusammenhang mit der hohen Verschuldung von Deggendorfer Bürgern bei den Juden. Zwei Jahre später verstarb der Herzog - verfault an Aussatz - und das Land fiel an einen gerechteren Herrscher, Kaiser Ludwig, den Bayern.
Deggendorf wurde ein Wallfahrtsort, der den Judenmord mit einer Hostienfrevel-Lüge zelebrierte bis zum Ende des 20. Jahrhundert. Die frei erfundene Hostienschändung als Rechtfertigung für Massenmord blieb weit über 600 Jahre bestehen.Erst 1992 wurde die antisemitische Wallfahrt vom damaligen Regensburger Bischof Manfred Müller mit einer Bitte um Vergebung abgeschafft.
Zurück nach Kelheim, wo eine mittelalterliche jüdische Gemeinde existierte, die lange Zeit vom dem Staub der Jahrhunderte bedeckt war. Deutlich sichtbar ist ein jüdischer Grabstein von 1249 in die Hausfront der Stadtapotheke im Stadtzentrum in der Donaustr. eingelassen. Im "Klösterl", einer ehemaligen Einsiedelei außerhalb der Stadt befinden sich zwei weitere Steine, die von jüdischen Gräbern geraubt wurden. Die Gedenksteine sollen vom jüdischen Friedhof in Regensburg stammen. Nach der Vertreibung der Juden aus Regensburg 1519 und der Zerstörung des dortigen Friedhofes sollen sie nach Kelheim verbracht worden sein.
Ob all diese Grabsteine als Souvenir, d.h. wahllos nach Kelheim verschleppt wurden, oder ob sie doch einen Bezug zur ausgelöschten Kelheimer Gemeinde hatten, war bislang nicht festzustellen. Eine wahre Fundgrube sind die gut recherchierten Bücher von Johann B. Stoll aus den Jahren 1863 und 1868. Stoll schreibt, dass zur Regierungszeit des Bayernherzogs Otto I, der Herrscher den Ausbau der Stadt Kelheim den Juden überließ.
Seiner Niederschrift ist zu entnehmen, dass in vielen der noch stehenden Häuser sich noch um 1868 „Merkzeichen“ der jüdischen Erbauer befanden. Als Fußnote vermerkt er: „So z. B. in Stein gehauene Nischen mit einem Becken zur Reinigung“, geht aber nicht auf weitere Beispiele ein. Dennoch eröffnet seine Aussage ein weiteres Spektrum an Relikten, wie die Überreste von Mesusot an den Haustüren oder das Vorhandensein eine Mikwe (Ritualbad). Er resümiert, dass Juden sich in Kelheim auch länger aufhielten, als in andern Städten.
Stoll schreibt weiter: „Noch heut zu Tage sind in Kelheim im Haus-Nr. 153, worin die Synagoge war, Monumente von jüdischen Familien vorhanden, — Zeugen ihres Reichthums. Auch ein Spottbild auf die Juden ist in der dortigen Hausflur noch zu sehen.“ Dieser Verweis könnte den Verbleib der Synagoge klären. Natürlich haben sich Straßennamen und Hausnummern seit 1868 geändert und aber nun kann man das besagte Haus, in dem sich die Synagoge befand, finden. Nach dem Pogrom von 1338 scheinen sich wieder Juden in Kelheim angesiedelt zu haben. Im Jahre 1381 werden fünf namentlich erwähnt: die Brüder Abraham und Valkh mit ihren beiden Hausfrauen und Hester (vermutlich Ester), die Witwe von Jakob Popl.
Herzog Albrecht III. vertrieb einige Jahre nach seinem Regierungsantritt 1442 die Juden aus seinem Herzogtum Bayern-München. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme wies auch der niederbayerische Herzog Ludwig IX. der Reiche im Jahr 1450 alle Juden aus. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Juden aus Kelheim sich in der nahegelegenen Donaustadt niederließen, denn Regensburg war freie Reichsstadt. Aus Regensburg sind in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts weitere zwei Namen von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, die entweder aus Kelheim stammen oder ihre Familien von dort kommen, bekannt.
Ein Rechtsstreit aus dem Jahr 1462 ist zwischen Jössel und seinem Nachbarn Abraham von Kelheim überliefert. Abraham von Kelheim hatte eine Abwasserleitung seines Hauses vor die Haustür von Jössel verlegt. Warum der Fall nicht vor einem Beit Din (jüdischen Gericht) verhandelt wurde, sondern im Wachtgericht ist seltsam. Ein später angebrachter Vermerk auf dem Urteil verweist auf die generelle Zuständigkeit des Wachtgerichts in Bausachen. Ebenso lebte Rabbiner Josef ben Jona, genannt Jossel von Kelheim in Regensburg, dessen Vater Jona ebenfalls Rabbiner in der Gemeinde war. Jossel von Kelheim und andere Regensburger Juden fielen Ritualmordanschuldigungen zum Opfer.
Seit dem Hochmittelalter breiteten sich Ritualmordanklagen im christlichen Abendland aus. Wie bei ungeklärten Todesfällen üblich, wurden ortsansässige Juden des Mordes verdächtigt. Das Schicksal der Juden in Trient 1475 zeigt, wie sie des Ritualmordes beschuldigt wurden, nachdem ein christlicher Junge tot aufgefunden wurde. Die Juden von Trient wurden kollektiv des Ritualmordes beschuldigt und von Anfang an diente die Folter nicht dazu, die Wahrheit herauszufinden. Eine Schlüsselfigur im Trienter Drama war Israel, der zum Christentum konvertierte und den Namen Wolfgang erhielt. Später entdeckte man seine heimlichen Bemühungen, die weiblichen Angeklagten im Prozess zu befreien. Daraufhin wurde er wiederholt gefoltert und hingerichtet.
Israel-Wolfgangs Aussage enthielt eine Beschreibung eines anderen Ritualmordes, der seiner Aussage nach in Regensburg im Jahr 1467 stattgefunden hatte und an dem er angeblich beteiligt war. Damals hätte Rabbi Jossel von Kelheim einem Bettler ein christliches Kind für zehn Dukaten abgekauft. Zusammen mit Saidja Straubinger und mindestens 25 weiteren Juden wäre dass Kind für das bevorstehende Pessachfest geopfert worden. Israel-Wolfgangs Aussage löste eine gesonderte Untersuchung in Regensburg aus, die mit der Verhaftung des Rabbis und der anderen prominenten Juden, die er genannt hatte, endete. Das Rabbi Jossel von Kelheim zur Zeit des angeblichen Ritualmordes gar nicht in der Stadt war, störte das Gericht wenig.
Die Angeklagten legten unter der Folter Geständnisse ab. Der deutsche Kaiser Friedrich III. ordnete ihre Freilassung gegen ruinöse Gebühren an. Erschwerend kam hinzu, dass Arbeiter, die mit der Reparatur des Hauses des Regensburger Rabbiners beschäftigt waren, beim Ausheben seines Kellers das Skelett eines kleinen Kindes entdeckten. Die Juden protestierten sofort, dass die Knochen platziert worden seien, um sie zu belasten, und Kaiser Friedrich verlangte auf ihre Freigabe. Erst 1480, nach vier Jahren wurden die siebzehn Angeklagten nach heftiger Intervention von Kaiser Friedrich III aus der Haft entlassen.
Obwohl kein Urteil gefällt wurde, erzwangen die städtischen Ankläger die Zusicherung der Freigelassenen und ihrer Nachkommen, keine Forderungen für den durch die Haft erlittenen wirtschaftlichen Ruin zu stellen. Der Kaiser verhängte eine Buße von 8000 Gulden über die Stadt wegen des Vergehens gegen die Juden, die unter seinem Schutz standen. 1479 gestand er der Stadt Regensburg jedoch zu, dass die Juden die Strafe selbst aufbringen sollen. Später stellte sich auch heraus, dass die gefunden menschlichen Überreste in Wirklichkeit Schafsknochen waren.
Die Privatbibliothek von Rabbi Josef ben Jona von Kelheim und Rabbi Saidja Straubinger umfasste 156 Bücher. Nach dem Regensburger Pogrom von 1519 wurden die wertvollen Bücher mindestens bis 1647 als billige Einbände für Akten und Bücher im Schottenkloster, in der bischöflichen Verwaltung und der Stadt benutzt. Etwa ein Dutzend Fragmente der Handschriften konnten wieder aufgefunden werden.
Heute kommt es nicht mehr zu Anschuldigungen wegen Hostienschändung, doch nach fast siebenhundert Jahren haben sich die Vorwürfe gegen Juden als Ritualmörder und Brunnenvergifter erhalten. Bis zum heutigen Tag ist das antisemitisches Stereotyp verbreitet, wenn auch in einem neuen Mäntelchen. Antisemitische Verschwörungstheorien kamen besonders während der Corona-Krise aus ihren Löchern gekrochen.
Was die Geschichte der Kelheimer Juden betrifft, so scheint es möglich etwas mehr Licht ins Dunkel dieser entfernten Vergangenheit zu bringen. Das Auffinden längst vergessener Namen, steinerner Zeitzeugen und alter Dokumente wiederzufinden, erlauben den Einblick in eine verlorene Welt lange vor unserer Zeit.