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Bürokratie

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 15.04.2025, 17:43 Uhr
Fachartikel: +++ Politik +++ Bericht 2749x gelesen
Buch: Bürokratie von David Graeber und Formulare zur Rentenversicherung
Buch: Bürokratie von David Graeber und Formulare zur Rentenversicherung  Bild: Kurt Lehberger

Frankfurt am Main [ENA] Die Verwaltung war im späten 19. Jahrhundert in großen Teilen effizienter als heute. Die Mobilität und Kommunikation sicherte ein länderübergreifendes System von Postkutschen und Kurierdiensten von Thurn und Taxis. 1867 übernahm die preußische Post die Übermittlung der schriftlichen Kommunikation.

In Berlin wurde ein Postrohrsystem eingesetzt, das Briefe in Windeseile zwischen den Postämtern verschickte. Die Post wurde bis zu neunmal am Tag zugestellt! In den USA war die Post so gut organisiert, dass sie für große Unternehmen zum Vorbild wurde. Im Jahre 1816 waren in den USA 70 Prozent der Bundesbeamten bei der Post in 3300 Postämtern beschäftigt. Sieben Millionen Briefe wurden täglich in den USA zugestellt. (Bürokratie, 2017, von David Graeber, Seite 188 ff) Mit der Industrialisierung und der aufkommenden sozialen Frage wurde die Verwaltung in Preußen unter Bismarck stark ausgeweitet. Die Sozialgesetzgebung in Form von Versicherungen gegen Unfall, Krankheit, Invalidität und Altersarmut erforderten einen riesigen Beamtenapparat.

Mit der Abschaffung des Bretton Woods-Systems 1971 und der Aufkündigung der Bindung des Dollars an Gold koppelte sich die Finanzwirtschaft von der realen Wirtschaft ab. Die freie Marktwirtschaft regelt nichts von selbst. Die Finanzwelt braucht Regularien und Kontrolle. Derivate und ETFs vergrößern den Spielraum der Finanzjongleure und erhöhen das Risiko, dass die Finanzblase platzt. Der Kapitalismus in der heutigen Form baut auf die Bürokratie der Handelsabkommen. Die Bürokratie verführte dazu, dass Steuerrückzahlungen auf nie bezahlte Steuern beantragt und ausgezahlt wurden, bsp. Cum-Ex-Geschäfte. Zollgesetze stellen unter Trump eine bürokratische Herrschaftsform dar. Abhängige Staaten biedern sich an, um den hohen Zöllen zu entkommen.

Effizienz und Rationalität des bürokratischen Apparates standen ganz oben. Max Weber (1864-1920) entwickelte ein effizientes Bürokratie-Modell für die Verwaltung. Die Bürokratie ist danach eine idealtypische Form einer legalen und rationalen Herrschaft. Die Effizienz und Rationalität sollten jedoch in Frage gestellt werden. Effizienz bezieht sich auf die Kosten/Nutzen Relation. Sie sollte der Effektivität nachgeordnet sein. Wenn ich das falsche tue, ist es sinnlos, auch wenn ich effizient handele. Rationalität ist ambivalent, nicht wertfrei und schafft Ungerechtigkeiten. Der Mensch handelt weniger rational in seinen Entscheidungen, sondern wird ebenso von Emotionen, Leidenschaften und Lebenserfahrungen in seinem Handeln bestimmt.

Heute macht uns die Bürokratie Kopfzerbrechen. Formulare müssen ausgefüllt werden, um Anträge für Semestereinschreibungen, Rentenbezug, Zuschüsse für die Kinderfreizeit, Steuerrückerstattungen und vieles mehr einzureichen. In der Industrie, im Handwerksbetrieb, an der Universität und anderen Institutionen wird wertvolle Zeit mit Bürokratie verschwendet. „Der Papierkram macht mich fertig“, so drückt es ein Kleinunternehmer aus, bevor er seinen Betrieb aufgab. Ein Professor sollte Lehre und Forschung betreiben und nicht ein Drittel seiner Zeit administrativen Tätigkeiten nachgehen müssen. Das gleiche gilt für Ärzte*innen, Pfleger*innen, Krankenschwestern, Erzieher*nnen und viele andere Berufe.

Bürokratie erschwert die freie Entfaltung. Bedeutende Wissenschaftler wie beispielsweise Einstein, Foucault, Bourdieu würden in der heutigen bürokratischen Welt der Universität nicht die Freiräume finden, die sie benötigten, um als freie, kreative Denker sich zu entfalten. Wissenschaftler sind heute im Getriebe des Forschungswesens, finanziert aus Staats-, Drittmittel aus der Wirtschaft und Eigenmittel, in Abhängigkeiten, die die Ergebnisse beeinflussen. Dazu kommt die Abhängigkeit von den Hierarchien, beispielsweise des guten Willens des Professors in der Assistenzzeit. Vorschriften, Nachweise über Prüfungen, Sprachdiplome usw. erschweren es, die Karriere zu starten.

Die besten Journalisten*innen haben häufig kein Journalistenstudium absolviert. Weniger Bürokratie und mehr Selbstverantwortung würden mehr kreative Köpfe hervorbringen. Im Koalitionsvertrag ist von Bürokratieabbau die Rede. „Die Administration von Sozialleistungen ist zu kompliziert. Gerade in schwierigen Lebenslagen haben Bürgerinnen und Bürger andere Sorgen als sich durch die Bürokratie zu quälen. Deshalb werden wir sozialrechtliche Grundlagen, Verfahren und Zuständigkeiten konsequent zusammenführen und vereinfachen und dazu bis Ende 2025 ein Konzept vorstellen.“ (Zeilen 2133 – 2136). „Wir bauen Bürokratie zurück und denken Prozesse von Grund auf neu.“ (Zeile 2497).

„Wir wirken darauf hin, dass die von der EU-Ebene ausgehende Bürokratie umfassend und wirkungsorientiert zurückgebaut wird.“ (Zeile 1996) Diese Bemühungen die ausufernde Bürokratie abzuschaffen, ist lobenswert. Allerdings hat die neue Bundesregierung vor, fünfzehn neue Kommissionen zu verschiedenen Themen einzurichten. Effizienz und Effektivität müssen die Kommissionen dann beweisen. Es braucht Regeln und Gesetze, um die Zukunft zu gestalten oder um Rückschritte zu vermeiden. Umweltauflagen, sind notwendig, um die Lebensräume des Planeten und das Klima zu retten. Das Lieferkettengesetz, um Menschen und Kinderrechte und Umweltschutz einzufordern und diesen Standard für alle Unternehmen zu setzen, ist kein bürokratisches Monster.

Das sind vorgeschobene Argumente, um das beschlossene Gesetz auszusetzen. Ist es zu viel verlangt, dass das Unternehmen weiß, welche möglichen neuen oder veränderten menschenrechtlichen oder umweltbezogenen Risiken bei den unmittelbaren Zulieferern typischerweise bestehen und welche Gruppen möglicherweise betroffen sind? Beispiele für vulnerable Gruppen sind: Frauen, Kinder und Jugendliche, Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, saisonale Arbeitskräfte, Indigene Gruppen, religiöse, ethnische und andere Minderheiten und weitere.

Das Gesetz schreibt zudem die Wirksamkeitsüberprüfung in den einzelnen Sorgfaltspflichten explizit vor. D. h. Unternehmen sind angehalten, regelmäßig zu überprüfen, ob die eigenen Maßnahmen und Prozesse tatsächlich die angestrebte Wirkung erreicht haben, und bei Bedarf sind Anpassungen vorzunehmen. Eine Maßnahme ist wirksam, wenn sie die Situation von Menschen oder den Schutz der Umwelt auch tatsächlich verbessern oder hierzu beitragen kann. Unternehmen sollten die soziale Verantwortung für die Arbeits- und Umweltbedingung ihrer unmittelbaren Lieferketten übernehmen.

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