Mosaique Chopin – Zwei Konzerte in der Residenz München
München [ENA] Eine ungewöhnliche Soiree war Anfang November im Max-Joseph-Saal der Münchner Residenz zu erleben: zwei vollständige Konzertprogramme hintereinander, nur durch eine kurze Imbißpause getrennt. Es war das vorletzte Konzert der Reihe 'Musicae' 2019. * * * * * * *
Anna Gourari, die unermüdliche Initiatorin, hat auch schon das Programm für 2020 vorgelegt und damit die Tragfähigkeit des auf mehrere Orte verteilten Konzertgeschehens bewiesen. Beim Chopin-Mosaik forderte sie unerschrocken von den Zuhörern beträchtliches Durchhaltevermögen und Konzentration – und mit weniger sollte man sich auch nicht zufrieden geben, wenn man ernsthaft in der Kunst tätig ist.
Daß die Reihen beim letzten Konzertabschnitt sichtlich gelichtet waren, konnte nicht verwundern, wäre aber kein Einwand. Anspruchsvoll geriet bereits der Beginn, die 3. Klaviersonate h-Moll, op. 58, Chopins Versuch, die Vorgaben der klassischen Sonatenform zu erfüllen. Tatsächlich besteht der Kopfsatz in der Exposition ganz richtig aus zwei Themen und einer Schlußgruppe, einer veritablen Durchführung und einer Reprise. Der aus Moskau stammende und hier in München tätige junge Pianist Dmitry Mayboroda wiederholte die Exposition auch schulgerecht und war sich der Komplexität der Architektur bewußt, die von Chopins charakteristischen chromatischen Figurationen überwuchert zu werden droht
In Dynamik und Agogik geht Mayboroda nun merklich differenzierter als früher vor und ist achtsam gegenüber den Details. Im Largo breitet sich tatsächlich Ruhe aus, und das Klavier beginnt zu singen, wie es die Cantabile-Vorschrift will. Man spürt, daß sich Mayboroda auch mehr für den Klang interessiert. Letzteres fiel besonders in der Zugabe auf, dem Regentropfenprelude op. 28/15.
Im cis-Moll-Mittelteil wirkt das stets wiederholte gis als bedrohliches Ostinato, das man in einer Orchestrierung – deren es mehrere gibt – etwa mit einem Horn wiedergeben kann. Das Stück gewann bei Mayboroda gewissermaßen Räumlichkeit. Daß er sein Spiel derzeit noch in der Meisterklasse einer Akademie in Imola vervollkommnet, zeugt von der Ernsthaftigkeit seiner musikalischen Absichten.
Das Wunderkind
Der zweite Pianist des Abends, Konstantin Egensperger, war in anderer Hinsicht eine außergewöhnliche Erscheinung: mit 14 Jahren Chopins vier Impromptus sowie die erste Ballade konzertreif zu spielen und dabei keinerlei Zeichen von Anstrengung merken zu lassen, kann nur erstaunen. Die Unbekümmertheit seiner Jugend und die Gewißheit, daß seine technischen Fähigkeiten ihm künftig mühelos auch die musikalische Weiterentwicklung ermöglichen werden, stellt Einwände, die man heute noch machen könnte, hintan. Er wird die Stücke zweifellos anders spielen, sobald er erwachsen geworden ist, doch daß er sie jetzt schon so spielen kann, ist allen Lobes wert.
Beim ersten Impromptu in As-Dur, op. 29, könnte man beispielsweise erwarten, daß die erste Phrase mit dem betonten Viertel wie mit einem Punkt abgeschlossen wird. Wenn dieses Viertel nicht als Ziel verstanden wird und nicht nur nicht betont, sondern fast nicht hörbar gemacht wird, verliert die Phrase an Form und Körperlichkeit. Auch andere Pianisten gehen über dieses Viertel achtlos hinweg, doch C. Arrau hat dieses Impromptu mustergültig eingespielt.
Bezeichnenderweise hat Max Reger in seiner Bearbeitung just dieses Viertel stets mit einem Tenuto-Strich gekennzeichnet. Daß er die Chopin-Melodie durch hinzugefügte Sexten manuell erschwert hat, bremst auch sinnvoll den Drang vieler Pianisten zu allzu forschem Tempo. Im dritten Impromptu Ges-Dur, op. 51, verführen Egensperger wieder seine flinken Finger, über Details und den emotionalen Ausdruck hinwegzugehen. Im Sostenuto wird hier eine schmerzliche es-Moll-Melodie von einem virtuellen Cello vorgetragen, das zur Entfaltung dieses Gefühls auch Zeit braucht
Der Pianist tut gut daran, sich diese Kantilene einmal von einem Cellisten vorspielen zu lassen, um zu verstehen, wie hier artikuliert werden sollte. Notabene gibt es auch eine hübsche Kammermusikfassung von Jeremy Liu, in der natürlich auch ein Cello zu Werke geht. Im Fantaisie-Impromptu Nr. 4 cis-moll, op. 66, gibt es eine ähnliche Stelle, das Seitenthema in Des-Dur, das allerdings zum Schwelgen einlädt
Wenn Egensperger auch hier sachlich-neutral bleibt und das sentimentale Potenzial des Themas keines Blickes würdigt, mag mancher Zuhörer vielleicht auch ein wenig dankbar sein. Es gibt mehrere Orchestrierungen, die sich dieses Potenzial nicht entgehen lassen und auch zeigen, wie weit man hier gehen kann. * * * *
In der ersten Ballade verbreitet Egensperger unnötige Hektik, wenn er die punktierten Halben in der Melodie nicht ganz ausspielt, sondern immer ein wenig vorzeitig verläßt, etwa ab Takt 101. Die Stretta Presto con fuoco wird offenbar allgemein als Startschuß zum Wettrennen aufgefaßt, das in einem wüsten Tumult enden müsse. Vielleicht brauchen Pianisten so etwas. Man kann sich aber Chopin selbst, in seiner schwächlich-kränklichen Konstitution, nicht in einem solchen selbstzweckhaften Furor vorstellen.
Der Exzentriker
Das zweite Konzert des Abends leitete Jacob Katsnelson, der seit vielen Jahren am Tschaikowsky-Konservatorium in Moskau als Professor unterrichtet, vermeintlich harmlos mit der 3. Suite d-Moll von Händel ein, HWV 428, doch keiner der Zuhörer konnte auf den Feuersturm gefaßt sein, der mit dem Präludium losbrach. Die Fuge danach kam stahlhart-martialisch – offenbar ein Händel fürs 21. Jahrhundert, oder vielleicht auch ein Händel, durch Prokofjews Brille betrachtet, wer weiß.
Tatsächlich begegnet man seinen Klavierwerken im Konzert ja sehr selten, noch viel seltener als denjenigen J. S. Bachs. Seinem großen Antipoden ist Händel in diesen Suiten so nahe wie sonst nie. Sie lassen sich unmittelbar mit Bachs Klavierpartiten und –suiten messen. Katsnelson hat diesen Schockeffekt zweifellos kalkuliert, weiß, wie man Händel ‚eigentlich‘ spielen sollte, und wenn man andere Einspielungen hört, glaubt man, ein anderes Stück vor sich zu haben
Wahrscheinlich kennt er auch Sviatoslav Richters Aufführung von 1979 – mit A. Gavrilov als Umblätterer! -, in der Präludium und Fuge ernsthaft betrachtet werden. Der quasi improvisatorische Beginn lädt geradezu ein, Rubatonachdenklichkeit zu entwickeln. Wenn Katsnelson dies in einem wütenden, unartikulierten Presto von sich weist, will er eine Extremposition formulieren. Seine eigene, frühere Einspielung ist übrigens weniger krass. Er hat seinen Händel also radikalisiert.
Man darf auch nicht glauben, daß er die ‚politische Korrektheit‘ der historischen Aufführungspraxis nur mißachtet. Er weiß um die Diskussion der metrischen Inegalität und scheut sich beispielsweise nicht, in der Allemande die Sechzehntel nicht glatt, sondern punktiert zu spielen und Verzierungen nach Bedarf und Gusto einzustreuen. Daß aber in der vierten Variation der Air die Begleitachtel (oder Achteltriolen, je nach Metrum) verwischt werden, obwohl ihr Kontrast zu den Vierteln das Stück trägt, ist schade.
Erstaunlich radikal kamen auch die 6 Sonaten Domenico Scarlattis vom Podium, sonst für grazil-verspielte Gesellschaftsmusik gehalten. Diese Musik ist aber durchaus für und mit Effekten geschrieben, und bei Katsnelson wetterleuchtete es von orchestralen Akzenten und Perspektiven, für die das Klavier fast nur stellvertretend agierte. In jedem Falle eine sehr originelle Interpretation.
Seine Auffassung von Chopin folgt dagegen konventionelleren Pfaden, vielleicht weil er weiß, daß dort die Konkurrenz so groß ist, daß man mit vertretbarem Aufwand nicht auf Eigenständigkeit hoffen darf. Immerhin präsentierte er das selten zu hörende, etwas eckig komponierte Rondo c-Moll op. 1, in dem sich gut nachvollziehen läßt, wie Chopin seinen Personalstil allmählich aus der Musiksprache seiner Zeit entwickelte.
Die beiden Nocturnes As-Dur, op. 32/2, und Des-Dur, op. 27/2, bedienten romantische Erwartungen, die beiden Walzer As-Dur, op. 42, und cis-Moll, op. 64/2, distanzierten sich allerdings von tänzerischen Bedürfnissen. Das As-Dur-Stück ist ja von Chopin auch schon widerspenstig komponiert, setzt in die ternäre Begleitung eine binäre Melodie ein, gewissermaßen um die Tänzer aus dem Rhythmus zu bringen.
Das cis-Moll-Exemplar ist durch Glasunows Orchesterfassung fürs Ballett sehr bekannt geworden und könnte den Pianisten darin auch zur Orientierung dienen: man braucht das Tempo nicht zu forcieren, auch nicht im piu mosso, und darf die dortigen Achtelgirlanden sehr wohl ausspielen. Katsnelson warf sie nur hin. Im piu lento käme es darauf an, den ternären Rhythmus in der linken Hand strikt durchzuhalten, damit die synkopischen Verschiebungen in der Melodie der rechten Hand einen Bezug haben. Da wird durch Rubato nur Schaden angerichtet.
Ein ähnliches Korrektiv braucht das oft zu Tode gerittene Scherzo Nr. 3 cis-moll, op. 39. Balakirew hat es in seiner Chopiniana-Suite dem Orchester anvertraut, und von einem Orchester kann der Pianist Farbigkeit des Klanges, rhythmische Konsistenz und artikulatorische Genauigkeit lernen. Nicht zuletzt Tempoexzesse, wie sie bei Chopin leider nicht selten vorkommen, werden dadurch vermieden. Wenn die Finger schneller spielen, als die Ohren hören können, ist weder dem Zuhörer, noch dem Werk gedient. Das letzte con fuoco dieses Scherzos war auch bei Katsnelson ein Schauplatz solcher Überforderung. Es wäre auch schon einiges gewonnen, in diesen Fällen nur so viel Pedal zu nehmen, daß die musikalische Struktur noch erkennbar bleibt.
Eine lehrreiche Soiree war es allemal, und man darf Anna Gourari für die nächste Konzertsaison weiterhin Mut für anspruchsvolle Konzertprogramme wünschen.