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Zukunft der Mobilität? - Shift Mobility auf der IFA 2020

Verantwortlicher Autor: Gerhard Bachleitner München, 10.09.2020, 20:14 Uhr
Kommentar: +++ Internet und Technik +++ Bericht 10525x gelesen
Zwei Gesichter der Mobilität, ein allerdings nach herrschender Mode aufgeplusterter Kleinwagen und ein Lastenfahrrad.
Zwei Gesichter der Mobilität, ein allerdings nach herrschender Mode aufgeplusterter Kleinwagen und ein Lastenfahrrad.   Bild: Veranstalter. Montage: G. Bachleitner

München [ENA] "Sind wir bereit für die Zukunft der Mobilität?" lautete eine der Fragen im Umkreis der SHIFT-Konferenz, und das klang alles andere als erwartungsvoll, eher bedrohlich und keineswegs erwünscht, vor allem als etwas, das über uns verhängt wird. *

Von den Begleitkongressen der IFA blieb heuer nur einer übrig, die Mobilitätskonferenz SHIFT, allerdings deklariert als "SHIFT MOBILITY meets IFA NEXT". Vermutlich war es eine Kapazitätsfrage, nicht beide jeweils zweitägigen Veranstaltungen räumlich und zeitlich unterbringen zu können. Die in den letzten Monaten pandemiebedingt eingeschränkte oder verlagerte Mobilität sollte die Frage nach der Gestaltbarkeit von Mobilität neu aufwerfen, doch werden Veränderungen bis hin zu einem Paradigmenwechsel schon länger diskutiert und hierzulande mit dem euphemistischen Etikett Verkehrswende versehen.

Der internationale und interdisziplinäre Blick, den die Shift-Konferenz bot, zeigte eine große Bandbreite von Bestandsaufnahmen und Strategien, ließ aber auch eine gewisse Verengung des Blickfeldes erkennen. Am Ende gab es zwar genügend Provokateure und viele Illusionisten, doch zu wenige Realisten. * * * *

Technische und soziale Grenzen der Verkehrssteuerung

Jack Stilgoe, Professor des University College London, trat an, den Mythos des autonomen Fahrzeugs zu demontieren. Das klang rebellischer, als es war, und hätte bei den Konstrukteuren der selbstfahrenden Automobile nur Zustimmung geerntet. Daß heutige Roboter und die Steuerung von Fahrzeugen heute noch zu dumm für die menschliche Lebenswelt sind, wird niemand bestreiten. So lange autonome Autos in ihrer Echtzeitperzeption der Umgebung beschränkt sind, tut man gut daran, ihnen mit Infrastrukturdaten zu helfen. Man muß die Welt maschinenlesbar, die Straßen gewissermaßen intelligent machen, nannte Stilgoe dies, doch so geschieht es ja auch. Die Automobilhersteller kümmern sich um hochgenaue Karten, um der KI die Orientierung zu erleichtern.

Aus der Sicht eines Konstrukteurs gab ihm Florian Petit, Mitgründer der Münchner Firma Blickfeld, recht, als er die Erfordernisse für die dreidimensionale Erfassung der Umgebung durch Lidar-Systeme präzisierte. Im autonomen Auto seien nicht die Aktuatoren das Problem, sondern die Sensoren und die sinnvolle Perzeption, also die zutreffende Interpretation einer Situation. Auch Gereon Meyer als Referent der Ingenieursverbände VDI und VDE war sich selbstverständlich über die nötige Instrumentierung im Klaren, betonte darüber hinaus aber die Notwendigkeit, die soziale Allokation des Verkehrs im Blick zu behalten, also auf die spezifischen Bedürfnisse und finanziellen Möglichkeiten der Bürger zu achten.

Diese Fragen fächerte Ilja Radusch, u.a. Leiter des Bereichs Automotive Services and Communication Technologies des Fraunhofer-Instituts FOKUS, soziologisch eingehend auf und verstellte damit den heute gängigen dirigistischen Verkehrbehinderungsmaßnahmen den Weg. Für das sog. Allmendedilemma, oder wie er es im Konferenzenglisch nannte: The Tragedy of The Commons, gibt es keine einfache Lösung. Die Übernutzung des öffentlichen Raumes durch eine Kostenerhöhung steuern zu wollen, ist offensichtlich unsozial und unfair, weil es die sozialen Schwachen tendenziell ausschließt, letztlich also u.a. nur der Erleichterung der Parkplatzsuche der Reichen dient. Damit wird die demokratische Errungenschaft individuell autarker Mobilität zerschlagen.

Es muß also um einen Ausgleich der Bedürfnisse gehen, nicht um die Maximierung von Einschränkungen. Hierzu gehört auch die Berücksichtigung der Bedürfnisse jener, die den jeweiligen öffentlichen Raum erst aufsuchen wollen, also noch nicht da sind. Man darf deshalb nicht nur die Anwohner fragen, wenn es um die Verkehrsregelung ihres Gebietes geht, denn sie werden dieses Gebiet immer egoistisch abschließen wollen. Dies ist aber eine kurzsichtige Perspektive, denn außerhalb ihres Gebietes, also im gesamten Rest der Welt sind sie ebensolche Fremde, wie diejenigen, die sie aus ihrem eigenen Gebiet aussperren wollen.

Man könnte hier leicht eine Verbindung zu J. Rawls' berühmter Gerechtigkeitstheorie mit dem "Schleier des Nichtwissens" herstellen und ungefähr folgende Überlegung anstellen: fordere im Verkehr nichts von Anderen, was du nicht selbst auch gerne befolgen würdest, wenn du an ihrer Stelle wärest, und behindere sie nicht, wenn du nicht selbst in gleicher Lage behindert werden willst. Der Ethiker in dieser Runde, der eine solche Vorgabe legitimerweise hätte referieren können, tat dies allerdings nicht, sondern beschäftigte sich mit einem anderen, ebenfalls viel diskutierten Problem des autonomen Fahrens.

Nicholas Evans, Professor an der University of Massachusetts Lowell, griff das sog. Trolley-Problem auf, mit dem Kritiker der KI deren Unfähigkeit zu moralisch verantwortlichem Handeln beweisen zu wollen pflegen. Dabei ist moralische Verantwortlichkeit ohnehin nicht das Thema, weil eine KI keine Person ist. Es geht vielmehr nur um die Implementierung eines Reaktionsmodells, dessen Schädigungspotenzial nicht schlechter als das eines in der gleichen Situation üblicherweise überforderten, nicht rational, sondern affektiv-instinktiv handelnden Menschen ist.

Und auch sonst wird die KI menschlich werden müssen, wie Evans mit Bezug auf weniger dramatische Situationen als das Trolley-Problem zeigte. Es könne sein, daß zutreffende Lagebeurteilungen im Verkehr eine KI dazu nötigen könnten, gesetzliche Regelungen zu übertreten. Dies aber ist eine Erfahrung, die ein engagierter Radfahrer in deutschen Großstädten immer schon gemacht hat - sofern er so lange überlebt hat.

Verkehrsplanungsstrategien einiger Städte

Die Revue der Städte versammelte die hinreichend bekannten Exempel für die Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs und die Propagierung kollektivistischer Verkehrsmittel. In Wien geht es, wie wir von Gerald Franz vom Kompetenzzentrum 'Urban Innovation Vienna' erfuhren, um die Abwendung eines "Carmageddon", und dafür mußten prophylaktisch einige Straßen stillgelegt werden. Der Verkehrsreferent von Antwerpen, Koen Kennis, wollte die Stadtbewohner zwar auch zum öffentlichen Verkehr "verführen", war sich aber im Klaren, daß man überhaupt erst einmal kundenzentriert denken und konkurrenzfähige Angebote machen, also auch die Infrastruktur verbessern muß.

Dies läuft u.a. auf einen multimodalen Routenplaner hinaus, der als Maßstab stets die Transparenz und Flexibilität des automobilen Verkehrs haben muß. Die Vorteile der Autonomie des eigenen PKW müssen von der (meist auch noch komplizierten) Heteronomie des ÖPNV überhaupt erst einmal erreicht werden. Die im Ausland gerne kolportierte Fortschrittlichkeit einer Fahrradschnellstraße in Antwerpen ist auch nur die halbe Wahrheit, denn sie entsteht nur im Zuge des Baus einer Ringautobahn in der Stadt, die auch noch oberirdisch gebaut ist - beides für den Zeitgeist in deutschen Städten unmögliche Vorhaben.

Von Vancouver erfuhren wir kaum etwas, weil es Sandra Phillips, Geschäftsführerin des Carsharing-Unternehmens MOVMI im Wesentlichen mit einem Gang durch einen dortigen Park bewenden ließ. Der luxemburgische Verkehrsminister François Bausch durfte die Großtat seines kleinen Landes, den kostenlos gemachten ÖPNV, erläutern, ließ es sich aber nicht nehmen, die Proportionen zurechtzurücken. Daß sich ein kleines, aber reiches Großherzogtum so etwas leisten kann, heißt ja nicht, daß so etwas auch nur ansatzweise auf andere Länder übertragbar wäre. Bausch betonte, daß die Kostenlosigkeit auch nichts bringe, wenn das Angebot nichts tauge, also nicht systemisch durchdacht und optimiert sei.

Man könnte sagen: ein gutes ÖPNV-Angebot würde sich auch von sich aus auf dem Markt behaupten und müßte nicht durch drakonische Maßnahmen gegen mißliebige Konkurrenten gestützt werden. In der Diskussion wurde beiläufig auch Berlin erwähnt, mit den sog. "Pop-up"-Radwegen (neudeutsch für: ad hoc), von denen einer auch gleich am Ausgang des Messegeländes beginnt, in der Kantstraße, einer wichtigen West-Ost-Verbindung.

Unerwähnt blieb freilich, daß hier nicht nur die Corona-Keule mit einer die menschliche Vernunft beleidigenden Unverhältnismäßigkeit geschwungen wurde, sondern auch die unter diesem Vorwand gerechtfertigte Infrastrukturvernichtung sachlich nicht zu rechtfertigen ist. Die Kantstraße kenne ich als Radfahrer recht gut und bin sie gerne und problemlos gefahren. Dies wird unter den neuen Verhältnissen natürlich nicht mehr der Fall sein, wenn der Dauerstau auf der Autospur die vorsätzliche Fehlallokation der Ressourcen fühlbar macht.

Künstliche Paradiese oder grüne Hölle?

Wohin der mobilitätsfeindliche Zeitgeist noch führen kann, zeigte das Referat des Architekten und Städteplaners Max Schwitalla, dessen Parallelisierung von horizontalem und vertikalem Verkehr (in Hochhausaufzügen) immerhin originell war. Sein Hinweis auf die Sicherheitsbedingungen bei Kurvenfahrten, der auf ein Plädoyer für abgerundete Einmündungen hinauslief, war sogar sehr konstruktiv. Doch leider geben die grün dominierten Richtlinien für Straßenbau genau das Gegenteil vor, erzwingen "Rückbauten" bisher abgerundeter Einmündungen und Kreuzungen zur gnadenlosen Rechtwinkligkeit, um Verkehrsbegegnungen möglichst konfrontativ zu gestalten und gefährlicher zu machen.

Doch schon seine Kritik, Straßenverkehr und Liftverkehr seien menschentrennende Maschinen, geht fehl, denn warum sollte ich, als Verkehrsteilnehmer auf dem kürzesten Wege von A nach B, mit anderen Menschen etwas zu tun haben wollen? Warum sollte ich mich einem verordneten Sozialismus und Kollektivismus unterwerfen wollen? Berlin will er zu einem Nachbarschaftkonglomerat umbauen, also zu einer Ansammlung von Dörfern regredieren. Hier macht sich offensichtlich die deutsche Zivilisationsaversion im Allgemeinen und näherhin die Aversion gegen die metropolitane Verdichtung, die schon im 19. Jhdt. das Signum der Moderne war, bemerkbar.

In seinen Stadtentwürfen gibt es keine gerade Linie mehr, also auch keine rational-transparente Topologie und Auffindbarkeit von Häusern. Da, wie wir aus der euklidischen Geometrie wissen, eine Gerade die kürzeste Verbindung zweier Punkte ist, gibt es in dieser Stadt auch keine kürzesten Wege mehr. Und aus etwas größerer Entfernung betrachtet sieht eine solche Siedlung aus wie asiatische Tempelruinen, chaotisch vegetationsüberwucherte Zivilisationsreste im laotischen Dschungel.

Resümee

Am Ende möchte man sich gerne mit jener, vom bekannten Stauforscher Michael Schreckenberg, Professor an der Uni Duisburg-Essen, zitierten Bemerkung des französischen Philosophen Blaise Pascal bescheiden, alles Unglück der Menschen rühre daher, daß sie nicht ruhig zu Hause bleiben könnten. Der historische Zufall der pandemiebedingten Quarantäne hat uns gerade erst zum Zuhausebleiben gezwungen, uns dabei aber auch vor Augen geführt, daß dies nicht das Glück beschert hat, obwohl wir aufgrund unserer digitalen Vernetzung ungleich stärker sozial eingebettet blieben, als dies im 17. Jahrhundert möglich gewesen wäre. Wir werden also weiterhin unterwegs bleiben wollen und müssen.

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