‚Social Media‘ in der Verantwortung
München [ENA] Auf dem 8. Social TV Summit wurde Ende Juni 2019 in München das Verhältnis zwischen sozialen Netzwerken und Nutzerbedürfnissen betrachtet. Einstmals war mit der Überschrift etwas anderes gemeint, nämlich die Anreicherung des klassischen Mediums Fernsehen durch Online-Inhalte.
Dies folgte aus der Perspektive des Veranstalters, der BLM (Bayerische Landeszentrale für neue Medien), die als Regulierer „rundfunkähnliche Inhalte“ im Blick zu behalten hatte. So altmodisch, wie dieser Auftrag zwischenzeitlich wirken mochte, war und ist er jedoch nicht, wie Hausherr Siegfried Schneider beiläufig akzentuierte. Die publizistische und politische Relevanz von Beiträgen aus den sozialen Netzwerken kann erheblich sein, wie man im Vorfeld der letzten EU-Wahl feststellen mußte, und die etablierten Organe der Öffentlichen Meinung sollten sich nicht auf ihrem noch bestehenden Vertrauensvorschuß ihrer Nutzer ausruhen.
Allerdings wird Regulierung gegenüber den weitgehend autokratisch agierenden kalifornischen Konzernen keine Sache regionaler Behörden mehr sein können; selbst Nationalstaaten stoßen da an ihre Grenzen, und ein strengerer Zugriff der EU würde zu transatlantischen Verwerfungen führen. Bertram Gugel, Kurator der Veranstaltung, drückte es vergleichsweise freundlich aus: Youtube und Facebook seien wie Casinos – die Bank gewinnt immer. Der kleine Unterschied bei diesem Vergleich: ins Casino geht man freiwillig; die sozialen Netzwerke zu nutzen, besteht mittlerweile ein sozialer Druck, und ein freiwilliger Wechsel ist sozusagen unmöglich.
Wozu braucht und wie erringt man digitale Souveränität?
Das verschobene Kräfteverhältnis zwischen regulierten und unregulierten Medien provoziert nun die Forderung „Social Media in der Verantwortung“. Man sollte jetzt nicht spotten: ‚zuerst läßt man den Wildwuchs groß werden, und nach acht Jahren ruft man nach Verantwortung‘. Die Proportionen mußten sich tatsächlich erst zum heutigen Mißverhältnis zwischen Netzwerkgröße und Verantwortung entwickeln. Allerdings kann man den Europäern insgesamt den Vorwurf der Saumseligkeit oder Ahnungslosigkeit nicht ersparen. Dies wurde am engagierten Plädoyer des Erlanger Medienethikers Prof. Dr. Chr. Schicha für die Digitale Souveränität deutlich.
Dabei bezog er sich u.a. auf ein Papier der Bundesregierung, eines vom Branchenverband Bitkom und die „Karlsruher Thesen zur Digitalen Souveränität Europas“. Schaut man sich letztere an, findet man eine Sammlung netter Wünsche, die aber sozusagen nur an die Weltgeschichte gerichtet sind. Man möchte nicht länger unterlegen und benachteiligt sein. Man bemerkt, daß es an Infrastruktursouveränität fehlt – voraussehbare Folge der Bequemlichkeit, Hardwareentwicklungen aus der Hand zu geben. Und schließlich strebt man allen Ernstes Plattformsouveränität an.
Es hat jedoch niemand die Europäer gehindert, vor 20 Jahren eine Suchmaschine zu bauen, die so weltumspannend wie Google wäre, doch die damaligen, sogar politisch intendierten Ansätze versandeten kläglich. Eine Zeit lang schien StudiVZ gegen Facebook einen lokalen Vorteil zu haben, doch rasch verschwand das deutsche Netzwerk in der Versenkung. Es gab MyTaxi in deutschen Städten, doch Uber machte Tumult und Geschäft. Es gab große deutsche Versandhändler, die sich irgendwann auch digitalisierten, doch Amazon dominiert heute den weltweiten Einzelhandel.
Die Gründe für das Fehlen digitaler Souveränität in Europa sind durchaus bekannt, seit langem bekannt, werden sich aber nicht mit einem Wunschzettel an den Weihnachtsmann überwinden lassen. Aus amerikanischer Sicht wirken solche Verlautbarungen zweifellos larmoyant und nörglerisch: ‚selbst nichts auf die Reihe kriegen, aber anderen, die es besser können, weil sie Geld in die Hand nehmen, Vorschriften machen wollen.‘ Um es nochmals etwas pointierter zu sagen: Digitale Souveranität ist kein Ergebnis juridischer Maßnahmen oder politischer Festlegungen, ist weder einklagbar, noch ein Naturereignis, sondern Ertrag weitsichtiger digitaler Investitionen und - horribile dictu – eines globalen Machtwillens.
Wie man sich in die Verhältnisse schickt
Was auf der Konferenz zu diskutieren blieb, betraf, da man solche grundsätzlichen Fragen nicht stellen wollte, sozusagen die sekundären Details: was macht man auf welcher Plattform am besten? Erika Friederici, mSCIENCE, etwa sollte sich zur Wirkung sozialer Medien äußern, quantifizierte aber lediglich den Einsatz von Werbemitteln im Vergleich verschiedener Werbekanäle. Drei Netzwerknutzer mit unterschiedlichen Bedürfnissen referierten ihre Erfahrungen:
Ayla Mayer, Ressortleiterin für Social Media bei Spiegel Online, erklärte, weshalb die Bildung von Facebook-Gruppen für ihr Medium derzeit nicht in Betracht komme. Der Journalist Simon Hurtz schilderte seine Exkursion in rechtsgerichtete Gruppen mit Hilfe eines erfundenen Profils. Und Miriam Wiederer, Mitgründerin der Gruppe Echte Mamas, erläuterte, weshalb sie die Kommunikation nur in geschlossenen Gruppen vor sich gehen lassen könne und wie Facebook trotzdem noch an unvermuteten Stellen löschend eingreift, ohne Gründe anzugeben. Sich den Übergriffen eines undurchsichtigen (und stets dialogunwilligen) Regulators ausgesetzt zu sehen, erzeugt aber offenbar noch nicht genügend Leidensdruck, um das unwürdige Verhältnis abzubrechen.
In gewisser Weise tröstlich klang der Vortrag von Matt Locke, der aus britischer Sicht, früher bei der BBC, jetzt bei Storythings, seine vergeblichen Bemühungen zu digitaler Souveränität schilderte. „We failed“, lautete sein resigniertes Resümee, nachdem er 2006 einen Entwurf für ein „BBC 2.0“ eingebracht hatte. Man hatte keine Chance im Wettbewerb mit den amerikanischen Konzernen. Auch heute blieb ihm nichts anderes übrig, als eine „more ethical and sustainable strategy“ zu fordern und an die Werte der „Kultur“ und (Zivil-)“Gesellschaft“ zu appellieren. Locke zeigte ungewollt, daß die Versäumnisse gemeineuropäisch sind und alle als Nachzügler im selben Boot sitzen.
Ethik ins Spiel zu bringen, erregt unvermeidlich Verdacht, denn das tut man, wenn man’s nötig hat, also über nicht genügend Macht verfügt. Wer die Macht hat, verfügt auch über das Verhalten und bestimmt den Maßstab. Daß Plattformarchitekturen heute die soziale Kommunikation bestimmen, ist unbestreitbar. Die Europäer wundern sich, daß Ethik heute die Form von AGBs angenommen hat und daß technische Infrastruktur soziale Struktur prägt: code is law. Um genau zu sein: nur ökonomisch mächtiger Code.