
Quantum Annealing zur Verkehrsflussoptimierung

München [ENA] Mit einem sehr speziellen, um nicht zu sagen exotischen Thema begann der MÜNCHNER KREIS Anfang Februar das Kongressjahr 2025. Von Quantum Annealing dürften die wenigsten Leute bisher gehört haben, und bezeichnenderweise gibt es auch keine brauchbare Übersetzung.
Man sollte die Vorstellung von Quantenphysik erst einmal beiseite lassen, denn es geht hier hauptsächlich um Mathematik, allerdings auch um eine, die sich kaum in Umgangssprache übersetzen läßt. Jedenfalls wird die betreffende Formel wohl nur Mathematikern etwas sagen. Dem Alltagsverstand noch am ehesten zugänglich scheint folgende Erklärung: "Quantum annealing ist ein Optimierungsverfahren zum Auffinden des globalen Minimums einer gegebenen Zielfunktion über eine gegebene Menge von Kandidatenlösungen (Kandidatenzuständen) durch einen Prozess, der Quantenfluktuationen nutzt."
Man hat üblicherweise einen Suchraum mit vielen Kandidaten, oder, wie es dann mit Bezug auf die Funktion heißt, lokalen Minima. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Problem des Handlungsreisenden, womit auch schon das Konferenzthema Verkehrssteuerung angesprochen ist. * * * * *
Pilotprojekt in Hamburg
Recht weit fortgeschritten in diesem innovativen Konzept ist hier der Hamburger Hafen, der einerseits groß genug ist, um Optimierungsbedarf zu haben, über 140 km Straßennetz, und andererseits der öffentlichen Verwaltung entzogen ist, so daß das Vorhaben nicht gleich mit regulatorischen Hemmnissen überfrachtet wird. Die Projektbeschreibung klingt harmlos und gleichsam selbstverständlich: "Mittels Sensorik werden Echtzeitverkehre erfasst und das Straßennetz in einem Verkehrsmodell im Detail modelliert. Dabei wird das aktuell gemessene Verkehrsaufkommen herangezogen, um das Aufkommen an den Ampelkreuzungen zu prognostizieren. So können Optimierungspotenziale benachbarter Ampeln berechnet werden, die den Verkehr in Echtzeit optimieren."
Natürlich, möchte man sagen, das ist doch Mindeste, was man von einer modernen Verkehrssteuerung erwarten sollte/dürfte, und warum ist dies noch nicht längst umgesetzt? Tatsächlich ist die ingenieursmäßige Realisierung weniger trivial, als vermutet, wie die Projektverantwortlichen Hermann Grünfeld und Rando Schade in der Konferenz ausführten. Zu organisieren war zunächst die Datenerfassung auf der Straße. Eingespeist werden die Daten in einen Digitalen Zwilling, auf dem dann der Quanten-Annealer die Optimierung rechnet.
Seine Ergebnisse werden schließlich in das Verkehrsleitsystem übertragen, das die Ampelsteuerung vornimmt. Wie die Modellrechnung zeigt, steigt die Komplexität der Aufgabe mit der Anzahl der berücksichtigten Knoten derart steil an, daß man nur Näherungslösungen anstreben kann. Vor allem aber muß in Echtzeit gerechnet werden, um auf den Verkehr zeitnah einwirken zu können. In der ausgewählten, überschaubaren Topologie des Hamburger Hafens ist dies auch gelungen.
Um noch den Bezug zur Quantenphysik nachzureichen: Quantum Annealing gilt als "quanteninspirierter klassischer Algorithmus". Das ist preziös ausgedrückt, ähnlich wie man in der Anfangszeit des HD-Fernsehens von "HD-ready"-Geräten gesprochen hat. Es ist also mehr als eine Simulation, aber nicht das volle Programm, jedenfalls nicht jener Typus von Quantencomputer mit Ultrakühlung und fehleranfälliger Quantenverschränkung, um dessen Praxistauglichkeit gerade noch die ehrgeizigste Forschung kämpft. Quanten-Annealer sind schon seit einigen Jahren im Praxiseinsatz.
Das Optimierungspotenzial - in Zeitgewinn und Stauminimierung - konnten die Referenten noch nicht endgültig angeben, doch selbst, wenn sie schon so weit gewesen wären, wäre es auf den Ausgangszustand bezogen, und wenn die bisherige Regelung schon halbwegs vernünftig war, wird sich der Gewinn in Grenzen halten. Ganz anders sieht es aus, wenn man in einem dezidiert obstruktiven Umfeld ein solches Optimierungsverfahren implementieren würde und hierzu die Genehmigung der Obstrukteure, die den öffentlichen Raum verwalten, bräuchte.
Das regulatorische Umfeld
In einer Stadt wie München, die seit Jahrzehnten die Verschlechterung der Regelungsqualität mit dem Ziel der Verkehrsbehinderung erlebt, liefe eine Verkehrsoptimierung diesem politischen Ziel selbstverständlich strikt zuwider. Ihre Ablehnung ließe sich ungefähr mit drei Strategien kaschieren. Man könnte ein solches Projekt mit bürokratischen Genehmigungserfordernissen auf die lange Bank schieben. Man würde die Kosten ins Feld führen. Und wenn das noch nicht reicht, würde man derart ausgedehnte Privilegien für den ÖPNV fordern, daß für den Individualverkehr keine Optimierung mehr übrig bleibt.
An fast jeder Kreuzung der Stadt ist der enorme Regelungsüberhang zu sehen, d.h. Regelung, die Verkehr zu regeln vorgibt, der gar nicht da ist, und damit denjenigen, der da ist, behindert. Wenn der Verkehr - und zwar gleichberechtigt individuell wie kollektiv - aber so genau erfaßt wird, daß er sich gewissermaßen selbst regeln kann, gäbe es keine Obstruktionsmöglichkeit mehr. Und es wäre natürlich viel mehr Verkehr als bisher möglich, wie man auch jetzt schon sehen kann, wenn zufällig mal eine Ampel ausfällt: der Verkehr wird flüssiger.
Das Kostenargument läßt sich ebenso leicht widerlegen: wenn man nicht über Jahrzehnte hinweg Unsummen für die gezielte Verschlechterung der Verkehrsinfrastruktur ausgegeben hätte und noch ausgibt, wäre das Geld in Fülle vorhanden. Die sog. Trambahnbeschleunigung, also die Individualisierung und Privilegierung der Trambahn- oder Bussteuerung, die durchweg zur Behinderung des Individualverkehrs führt und auch diesen Zweck hat, hätte man leicht um eine Individualisierung des Restverkehrs ergänzen können, aber dies wurde selbstverständlich von vornherein vermieden.
So hat man in Hamburg also eine technisch erfreuliche und innovative Lösung erarbeitet, deren Ausweitung auf größere Stadtgebiete und andere Städte segensreich wäre, doch muß man auch hier wie bei vielen anderen hierzulande erforschten Technologien befürchten, daß sachfremde Vorgaben und Interventionen eine baldige Implementierung und Nutzung behindern, um die vorgefaßte politische Agenda nicht zu beeinträchtigen.