Medientage München 2018 - an neuem Ort mit neuem Konzept
München [ENA] "Macht mit! Gestaltet die digitale Mediengesellschaft!" könnte ein gut gemeinter Aufruf zur digitalen Selbstbestimmung lauten. Im Zeitalter der kulturellen Fremdbestimmung lautet er "Engage! Shaping Media Tech Society" und war das Motto der Münchner Medientage.
Daß ein solcher Impuls notwendig ist, steht freilich nicht in Frage, und die umfängliche Eröffnungsveranstaltung, die Moderator Klaas Heufer-Umlauf aber scharfzüngig und unterhaltsam über die Bühne brachte, versammelte bereits die ganze Bandbreite der Themen. Vom berüchtigten chinesischen Sozialkreditsystem bis zur Erleichterung der Rundfunklizenzerteilungsprozedur, die BLM-Präsident Siegfried Schneider befürwortete, von der deutschen oder europäischen VoD-Inhalteplattform, die BR-Intendant Ulrich Wilhelm als Gegengewicht gegen die übermächtigen amerikanischen Konzerne forderte, bis zum datenschutzfreundlichen Browser aus dem Hause Burda, von der Blockchain bis zum Autonomen Fahren.
Ob man die Zukunft reparieren kann?
Einen starken Pflock rammte gleich zu Beginn Hauptredner Andrew Keen, bekannter Internet-Kritiker, mit seinem aktuellen Buch in den Boden, "How to fix the future". Daß die (digitale) Zukunft, wie man sie uns bisher verspricht oder vielmehr: wie sie uns droht, reparaturbedürftig ist, wird man unschwer bestätigen können. Keen warnte davor, dem Müll an Verheißungen, der aus Kalifornien herüberschwappe, Glauben zu schenken. Die sozialen Netzwerke förderten eine narzißtische Haltung beim Nutzer, und der Netzwerkeffekt begünstige die Formierung von ökonomisch gefährlichen Monopolen.
Radio auf Zuruf?
Das traditionelle Themenfeld Radio ist mittlerweile nicht nur dem - noch bei weitem nicht bewältigten - Druck der Digitalisierung ausgesetzt. Die analogen Besitzstandswahrer, in diesem Falle der VBRA, der Verband bayerischer Rundfunkanbieter, hatte die Stirn, seine Widerstandskundgebung unter das melodramatische Motto zu stellen: Spiel mir das Lied vom Tod – UKW auf dem Sterbebett der Politik? Da wäre vielleicht doch mal ein Schaukampf gegen die DAB-Pioniere angebracht, die seit Jahrzehnten nur mäßig erfolgreich Boden gewinnen zu suchen und am Tag vorher ihre Kundgebung veranstalteten.
Tatsächlich verläuft die Front heute und künftig nicht mehr zwischen analogem oder digitalen Verteilnetz, sondern zwischen Verteilnetzen und dem Individualkommunikationsnetz, über das der Internetzugang erfolgt. Daher brauchte es folgerichtig auch eine Diskussion " The next audio interface - Smart Speaker mischen den Audiomarkt auf". Wolfram Tech, BCI, wies hier auf aktuelle Baustellen hin. Was passiert mit dem Radio, wenn künftig der ohnehin im Haushalt stehende digitale Assistent, etwa von Google oder Amazons Echo, als Radiogerät benutzt wird? Dann wird Radiohören scheinbar wieder einfach (statt mit einem Drehknopf aus einer Datenbank von tausenden von Internetradiostationen eine auswählen zu müssen).
Aber dafür muß der Radiohörer die Datenbank bereits im Kopf haben. Eine akustische Navigation setzt ein hohes Abstraktionsvermögen und gutes Gedächtnis voraus und läßt definitionsgemäß Übersicht vermissen - denn zu sehen gibt es hier ja nichts mehr. Darüber hinaus haben die einschlägigen Musikaggregatoren, beispielsweise Spotify, bereits den Radiohörer als nächste Zielgruppe erkoren, wollen also die Funktionen des bisherigen redaktionellen Radios mitübernehmen. Die Idee eines linearen Programms bisheriger Machart scheint in der Tat gefährdet, wenn nur noch die Stimmung des Hörers abgefragt wird, um sie optimal bedienen zu können.
Audio im Zeitalter seiner technischen Simulierbarkeit
Nicht nur die Distribution des Radios ist von Disruption betroffen, auch intrinsisch sind im Medium Audio technische Innovationen im Gange, die einiges verändern werden, Stichwort "Radio meets AI". Unter dieser Überschrift beschrieb Guy Fränkel vom bayerischen Sender Rockantenne den Einsatz künstlicher Stimmen in seinem Programm. Derzeit könne man synthetische Stimmen noch nicht für Moderatorenaufgaben einsetzen, doch für ein automatisiertes Hörerquiz und die Ansage von Blitzerstandorten verwende man bereits Sprachsynthese.
In den USA ist man da natürlich schon weiter, wie Chris Pidcock von der schottischen Firma CereProc erläuterte. Dort hatte man die Stimme des Radiomoderators James Dupree, der sie krankheitsbedingt verlor, so gut analysiert und synthetisiert, daß er inzwischen wieder akustisch tätig sein kann. Dem Kapitel Illusionserzeugung läßt sich ein anderes Projekt zurechnen, das gewissermaßen von öffentlichem Interesse war und acht Wochen Arbeit benötigte, "JFK resilenced".
Den imaginationsunwilligen amerikanischen Medienkonsumenten genügte es nicht mehr, Kennedys letzte Rede vor seiner Ermordung schriftlich vor sich zu haben. Sie sollte auch akustisch hörbar gemacht werden, und so puzzelte man sie aus den sonst überlieferten Tondokumenten zusammen. Selbstredend könnte der posthume Kennedy auch alles mögliche andere sagen, was man hören möchte. Akustische Echtheit wird künftig ebenso relativ und fragwürdig sein wie visuelle Echtheit bei Stand- und Bewegtbild.
Die technischen Grundlagen dafür beschrieb in der selben BLM-Veranstaltung "Die perfekte Stimmimitation" sinnigerweise Dr. Nico Becherer von Adobe, wo man ja schon vor langer Zeit mit Photoshop ein einschlägig bekanntes Werkzeug zur Verschönerung der Wirklichkeit - oder sollte man sagen: Erzeugung einer schöneren Wirklichkeit? - bereitgestellt hat. Erwartungsgemäß schleicht sich auch die Stimmanalyse und -synthese mit unspektakulären Anwendungen ein.
Man möchte eine Rede rasch verschriftet haben, um sie akustisch schnell redigieren zu können. Man möchte eine Bewegtbild-Doku vorab im Rohschnitt fertig machen und legt den Kommentar mit einer künstlichen Stimme an. Doch am Ende lauert wieder die ethische Frage: was bedeutet es, wenn die künstliche nicht mehr von der echten Stimme zu unterscheiden ist? Welche Echtheitsindikatoren wird man dann brauchen?
Plattformregulierung
Wie im Vorjahr wurde auch diesmal Jeff Jarvis eingeladen, um die europäische Plattform- und Mediendiskussion gegen den Strich zu bürsten. So opponierte er also wunschgemäß gegen eingefleischte hiesige Überzeugungen: Platforms are not Publishers and Regulation is Risky. Seine Rede fiel anregend aus, ohne durchweg überzeugen zu können. Stets hatte man das Gefühl, daß Argumente pro domo gesucht wurden, in diesem Falle pro domo Americana. Wenn das Problem der EU-DSGVO hauptsächlich darin besteht, daß US-Publikatoren dann eben die europäische Leserschaft fallen lassen oder ausschließen, dann zeigt das doch nur, wie groß das Machtgefälle in Wahrheit bereits ist.
Wenn ein verschärftes EU-Urheberrecht ein nicht zukunftsfähiger digitaler Protektionismus gegenüber einem freiheitlichen Internet ist, weshalb geht dann realwirtschaftlicher Protektionismus ausgerechnet vom derzeitigen Amerika aus? Dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz kreidete Jarvis nicht mehr an, als daß es journalistische Ressourcen binde - als ob man nicht weit gravierendere Einwände haben müßte. Sicher nicht falsch, allemal konsensfähig, aber ein wenig windelweich kam Jarvis' abschließender Trost daher: das Internet sei, geschichtlich gesehen, noch zu neu, als daß wir bereits alle nötigen Werkzeuge und angemessenen Regularien dafür hätten. - Nun, mag man ergänzen, deshalb treffen wir uns ja auch alljährlich auf den Münchner Medientagen.