8. Medieninnovationstag der BLM 2021
München [ENA] Werden die derzeitigen Medien ihrer Aufgabe gerecht? Braucht es neue Inhalte oder neue Distributionsformen für die alten? Solche Fragen stellte sich die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien, BLM, Ende März beim Medieninnovationstag, der nun schon zum achten Mal stattfand.
Heuer hatte man ein erheblich verändertes Nutzerverhalten zu konstatieren, selbstredend durch die Verlagerung von Präsenzkommunikation ins Netz aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen verursacht, die auch die Konferenz selbst ins Netz nötigten. Informations- und Unterhaltungsangebote wurden vermehrt im Netz gesucht, statt von 37 % der Bayern 2019 nun von 54 % 2020. "Der Digitalisierungs-Turbo hat die Online-Nutzung befeuert", faßte dies BLM-Geschäftsführer Dr. Thorsten Schmiege zusammen.
Mit einer solchen pauschalen Feststellung ist freilich nicht viel gesagt, denn daraus könnten die etablierten Medienhäuser ja schließen, mehr vom Gleichen wäre die richtige Antwort darauf. Es ist damit auch nicht gesagt, daß die etablierten Medienhäuser oder Distributionskanäle die alleinigen Gewinner des Nachfrageschubs wären. Im selben Corona-Jahr 2020 ist ja auch der etablierte Journalismus in eine veritable Glaubwürdigkeitskrise geraten. Man muß also schon genauer hinschauen, was neu wurde oder werden sollte.
Altbekannte Innovationsfaktoren
Dabei kamen altbekannte, um nicht zu sagen erstaunlich altmodische Konzepte zum Vorschein, deren Einstufung als "Innovation" zumindest fraglich erscheint. Daß der Erfolg mit der „Vermenschlichung“ medialer Inhalte komme, wird uns seit langem in jeder Doku vorgeführt, mit personalisierten Problemdarstellungen und einer aufdringlich der Seelenmassage dienenden Begleitmusik. Das Geschäftsmodell der Privatsender seit den 80er Jahren basiert, wie seit langem von den Boulevardblättern der Presse erprobt, auf Emotionalisierung der Zuschauer.
Als weiteren Erfolgsfaktor nannte man eine genauere Zielgruppenansprache und erklärte das Motto „One size fits all“ für Vergangenheit, so etwa F. Meyer-Hawranek, BR. Es wird sich indes kein Medienhistoriker erinnern, daß dieses Motto je ausgerufen worden wäre. * * * * * *
Seit sich der BR in den 60er Jahren das "Studienprogramm" für die Zielgruppe der Bildungswilligen zugelegt hat und die Dritten Programme der ARD zu Vollprogrammen wurden, seit die Frequenz- und Kanalknappheit im Zuge des technischen Ausbaus allmählich überwunden werden konnte, ist Zielgruppenanalyse und -ansprache Voraussetzung jeder Medienstrategie. Und seit das Internet zum Breitbandmedium geworden ist, finden dort selbstverständlich nichtlineare Audio- und Videoinhalte beliebiger Art statt, für die sich entsprechende Zielgruppen formieren.
Zielgruppenfokussierung
Aus Sicht der etablierten Medienhäuser findet hier aber eine Abwanderung des Publikums von den bisherigen, gut kontrollierten Distributionswegen statt, dem sie nun in all seiner Fragmentierung und Volatilität nachlaufen müssen. Das ist nicht schön formuliert, ist aber auch kein angenehmes Geschäft. Meyer-Hawranek zeigte dies anhand des ARD/ZDF-Jugendprogramms FUNK, also der Zielgruppe der 14- bis 29jährigen. Daß auch diese Alterskohorte alles andere als homogen ist, versteht sich. Den Hauptanteil der Zielgruppenfokussierung scheint dabei die jeweilige Plattform selbst zu bewirken.
Für das jüngste Publikum, die Teenager, gelten Snapchat und Tiktok als maßgebend, und dafür wird bei FUNK tatsächlich eine paradigmatische Seifenoper produziert, I'am Josephina. Auf Nichtmehr-Teenager kann dieses Paradigma allerdings erschreckend wirken, denn hier simuliert eine Kunstfigur das vermeintlich echte Leben, das für Teenager schon dadurch echt anmutet, daß es in der für sie gewohnten medialen Ausstattung stattfindet. Der Tiktok-Habitus und -Gestus beglaubigt die Authentizität der Person, deren Selbstverständnis "I'am just myself" lautet.
Gleichzeitig sei sie "eine typische 19-Jährige, die ihr komplettes Leben, ihre Gefühle und ihre Gedanken auf Snapchat mit ihren Followern teilt - ohne Kompromisse" (so der Begleittext). Also vollendeter Konformismus mit Individualitätsversprechen, genau wie es die Werbung vormacht. Und unter der Hand wird die Zuschauerschaft durch eine Gefolgschaft ersetzt. Daß die Auslagerung der Sozialisation an externe und in der Regel auch ausländische Medien für die Kohärenz der Gesellschaft nicht ohne Folgen bleiben kann, ist absehbar.
Auf eines der dabei entstehenden Defizite bot Amelie-Marie von der Funke-Mediengruppe eine Tiktok-Antwort, die Demokratie-Nachhilfe "Du hast die Wahl". Das ist auch ökonomisch nützlich, denn Tiktok möchte das Albernheitsimage ablegen und sich für seriöse Inhalte öffnen, in diesem Falle das Projekt "Lernen mit Tiktok", das mit einigen Mio. Euro Fördergeldern ausgestattet ist.
Das digitale Kräfteverhältnis als Mißverhältnis
Man könnte hier nicht nur ein pädagogisches Mißverhältnis konstatieren, wenn ein vermutlich innovationsunwilliges Schulwesen auf einen Tiktok-Kanal zur Politischen Bildung angewiesen ist. Das Mißverhältnis entsteht schon durch das Kräfteverhältnis zwischen Plattformen und Inhalteanbietern. Beiläufig wurde das Problem von einigen Referenten auch erwähnt. *
Man sei tatsächlich den sozialen und ethischen Regularien der jeweiligen Plattform unterworfen, also etwa der notorischen Prüderie der Amerikaner. Auch den von dort importierten und für die Sozialisation der Jugendlichen nicht unproblematischen Selbstdarstellungskult in den "sozialen Medien" darf man durchaus als Fremdbestimmung ansehen - und wiederum beklagen, daß es keine europäischen Alternativen gibt.