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Der Vertrag von Trianon 1920 - 2020

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 04.07.2020, 21:42 Uhr
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Salzburg [ENA] Heuer im Juni 2020 jährte sich der Tag, an dem der Friedensvertrag von Trianon unterzeichnet worden war, zum hundertsten Mal. Für unser Nachbarland Ungarn ist dieser Jahrestag wahrlich kein Grund zum Feiern - im Gegenteil: Ungarn verlor nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Territoriums und als unterlegener Staat konnte man den Vertragstext der Siegermächte nur zähneknirschend zur Kenntnis nehmen.

Schon einmal in der Geschichte musste Ungarn einen herben Gebietsverlust erleiden: In der Schlacht gegen die Osmanen (Mohács, 1526) büßte Ungarn durch den Tod König Ludwigs II. und eines großen Teils des Adels nicht nur seine Führungsschicht, sondern auch seine Selbständigkeit ein. Ein großer Teil des Landes wurde osmanisch, ein kleinerer Teil habsburgisch. Zwischen diesen Fronten konnte sich das Land nicht hinreichend erholen, weite Landstriche wurden in der Folge entvölkert. Die Zweite Wiener Türkenbelagerung (1683) erlebte nicht zuletzt durch die Hilfe des polnischen Königs Johann III. Sobieski für die Donaumonarchie ein glückliches Ende.

Das polnische Entsatzheer bezwang die osmanische Armee des Großwesirs Kara Mustafa Pascha in der Schlacht am Kahlenberg. Aber auch mit den neuen Herrschern (den Habsburgern) hatte die ungarische Bevölkerung keine große Freude; es gab immer wieder anhaltende Unruhen wie die Kuruzenaufstände oder die Revolution von 1848/49. Der „Österreichisch-Ungarische Ausgleich“ von 1867 bedeutete zwar, dass Ungarn eine weitgehende Selbständigkeit erhielt (Wiederherstellung des Reichtages und eigene Ministerien). Trotzdem blieb es ein schwer regierbarer Vielvölkerstaat, da nur rund die Hälfte der Bevölkerung sich als Magyaren verstand.

Bevor nach dem Zweiten Weltkrieg die Pariser Verhandlungen begannen, spalteten sich bereits die ersten Landesteile von der k.u.k Doppelmonarchie ab: Tschechen und Slowaken, deren Nationalrat in Paris bereits am 2. Juli 1918 von den USA anerkannt worden war, riefen am 28. Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik aus. Kroatien und Slawonien gründeten am 5. Oktober in Zagreb den Nationalrat der Serben, Kroaten und Slowenen, aus dem Monate später das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen hervorging.

Die „Karlsburger Beschlüsse“ (rumänisch Alba Iulia, ungarisch Gyulafehérvár) vom 1. Dezember 1918 hatten zur Folge, dass sich die Rumänen aus dem Raum Siebenbürgens, die dort lebenden deutschsprechenden Sachsen und die Banater Schwaben dem Königreich Rumänien anschlossen. Die Ungarn lehnten das ab – sie zweifelten (nicht zu Unrecht) an den Zusicherungen der Rumänen an die ungarische Minderheit. Tatsächlich wurden die vereinbarten Zugeständnisse nicht eingehalten. Von den Siegermächten des Krieges (Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA, Italien) wurde Ungarn – wie auch Österreich – als Kriegsverlierer betrachtet. Nach den Verhandlungen in St. Germain waren die Tatsachen also schon mehr oder weniger geschaffen:

Ungarn verlor durch den Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Staatsgebietes: das heutige Burgenland, große Teile Kroatiens und Slawoniens, die Slowakei, Siebenbürgen, die Karpatenukraine, das Banat und die Vojvodina. Das Land schrumpfte von 279.090 km² um 186.060 auf 93.030 km². Rund 63 Prozent der einstigen Länder unter der heiligen Stephanskrone befanden sich nun außerhalb neuer Grenzen, darunter knapp 30 Prozent der Magyaren. Ungarn büßte nicht nur viele Gebiete mit Rohstoffvorkommen ein – als Nachfolgestaat der Doppelmonarchie wurde es wie Österreich zu Reparationszahlungen verpflichtet, die über 30 Jahre lang abgezahlt werden sollten. Eine Armee wurde mehr oder weniger untersagt, lediglich eine Truppe von 32.000 Mann erlaubt.

Für Ungarn unterschrieben Ágost Benárd, Minister für Wohlfahrt, und Alfréd Drasche-Lázár, der anwesende Botschafter das für das Land so erniedrigende Schriftstück. Weitere Unterzeichner waren: Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Siam (Thailand), Griechenland, Nicaragua, Panama, Polen, Portugal, Rumänien, das serbisch-kroatisch-slowenische Königreich und die neu gegründete Tschechoslowakei. Das deutsch sprechende Westungarn, seit 1919 von den Österreichern Burgenland genannt, sollte an Österreich angeschlossen werden – dies war eine der wenigen Auflagen des Vertrags von Trianon, die bei der Unterzeichnung noch nicht verwirklicht waren.

Ödenburg (das heutige Sopron) war als Landeshauptstadt des Burgenlandes vorgesehen. Die in der Stadt und den umgebenden Dörfern im Dezember 1921 auf Vermittlung Italiens abgehaltene Volksabstimmung ging jedoch zugunsten Ungarns aus; der Großteil des Burgenlandes wurde im Herbst 1921 hingegen ohne Volksabstimmung an Österreich angegliedert. Dass es über das Plebiszit die widersprüchlichsten Interpretationen gibt, sei hier lediglich erwähnt.

Nachdem die Grenzen auch nach strategischen Aspekten gezogen wurden – Italien wollte zum Beispiel den „slawischen Korridor“ von der neu geschaffenen Tschechoslowakei zum neuen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen verhindern – kamen etwa drei Millionen Magyaren unter fremde Hoheit (Slowakei, Ukraine, Serbien, Slowenien und Rumänien). Innerhalb der neuen Grenzen lebten nur rund 10% mit einer anderen Muttersprach als Ungarisch. Natürlich waren die Magyaren nach der Unterzeichnung des Vertrages von Trianon empört und tief getroffen, waren doch die abgefallenen bzw. abzutretenden Gebiete seit dem 11. Jahrhundert nach und nach zum Königreich Ungarn gekommen.

Das Motto des Widerstandes lautete „Nem, nem, soha!“ („Nein, nein, niemals!“) Die Beflaggung wurde als Zeichen des Protests jahrelang auf Halbmast gesetzt. Erzählt wird, dass ungarische Kinder in der Zwischenkriegszeit am Anfang des Unterrichts ein Gebet sprechen mussten, indem die Wiederherstellung Großungarns gefordert bzw. „erbeten“ wurde: „Hiszek egy Istenben, Hiszek egy hazában, Hiszek egy Isteni örök igazságban, Hiszek Magyarország feltámadásában.“ („Ich glaube an einen Gott, ich glaube an eine Heimat, ich glaube an die unendliche göttliche Wahrheit, ich glaube an die Auferstehung Ungarns!“)

Die Wiener Schiedssprüche von 1938 und 1940 „änderten“ unter der Aufsicht der Nationalsozialisten den Vertrag von Trianon, wobei diese „Korrektur“ nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten wiederum für ungültig erklärt wurde. Nach 1945 wurden die 1920 geschlossenen Kontrakte offiziell von keinem Staat mehr in Frage gestellt, obwohl sie für viele Ungarn nach wie vor eine nationale Demütigung darstellten. Der Einmarsch von fünf russischen Divisionen, die 1956 den Aufstand niederschlugen, sorgte aber bereits für die nächste Verbitterung.

Man darf nicht vergessen, dass Ungarn mit der symbolischen Öffnung eines Grenztores zwischen Ungarn und Österreich (Sankt Margarethen im Burgenland und Sopronkőhida in Ungarn) den Fall des „Eisernen Vorhangs“ nicht nur provoziert, sondern entscheidend eingeleitet hat. Dieser provokanten Geste gegenüber Russland gebührt Respekt! Zudem ist es mehr als verständlich, wenn die Verträge von Trianon, auch nach vielen Jahrzehnten, für ein Gefühl der nationalen Trauer sorgen.

Das ungarische Volk wurde hintereinander von den Osmanen erobert, von den Habsburgern unterdrückt, im Ersten Weltkrieg geschlagen, musste wirre Jahre der Räterepublik und der Annäherung an das Nazi-Regime verkraften, erlebte den nächsten Weltkrieg, eine Volksrepublik stalinistischer Prägung sowie den Einmarsch des „großen Bruders“ – bevor langsam eine zögernde Annäherung an den Westen, der so genannte „Gulaschkommunismus“, einsetzte.

Seit 10 Jahren wird in Ungarn am 4. Juni der „Tag des nationalen Zusammenhalts“ gefeiert. Von Revisionisten wird in einer verklärten Rückschau der Vertrag von Trianon immer noch als „Friedensdiktat“ und als die größte historische Tragödie für das „Ungartum“ bezeichnet. Bei allem Verständnis sollte vielleicht auch ein Blick in die Zukunft gestattet sein: Als demokratische Republik und als Mitglied der Europäischen Union kann Ungarn einen modernen und friedlichen Kontinent mitgestalten. Gewiss, Solidarität ist schwierig zu leben – der Begriff bedeutet ja ursächlich, das Ganze im Auge zu behalten. Den Zweiflern sei gesagt: Ein zweites Europa gibt es nicht.

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