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Was das Schachspiel mit dem Coronavirus zu tun hat

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 25.03.2020, 14:44 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 13390x gelesen

Salzburg [ENA] Mythen und Märchen, so sagt man, bilden den Menschen. In ihnen sei viel Wahrheit zu finden. Nicht, weil sich ein historisches Geschehen genau so ereignet hat. Nein – weil sich Geschichten immer wiederholen, sich fortwährend auf eine ähnliche Art ereignen. In ihnen steckt also möglicherweise mehr Wahrheit als in scheinbar "nachgewiesenen" und "beglaubigten" Geschehnissen.

In der jetzige Corona-Krise wird von vielen Wissenschaftern ein Phänomen angesprochen, das auf den ersten Blick – so scheint es – gar nichts mit dem Virus zu tun hat. Die Verbreitung des Krankheitserregers erfolgt nach einer mathematischen Regel, genauer der Regel des exponentiellen Wachstums. Da wir Menschen eher lineare Entwicklungen gewohnt sind, können wir mit einer explosionsartig anwachsenden Steigerung wenig anfangen, vor allem nicht als zukünftiges, also nicht unmittelbar wahrnehmbares Szenario.

Das exponentielle Wachstum stellt – und das ist sein eigentliches Wesen – die prozentuale Zunahme eines Wertes innerhalb einer gewissen Zeit dar. Die effektive Veränderung ist natürlich abhängig vom Ausgangswert zu Beginn einer Entwicklung, wobei sich der Prozess – je nach gewähltem Faktor (zum Beispiel eine Verdopplung) – über die Zeit sehr beschleunigt. Und genau darin liegt die Problematik. Die folgende Legende erklärt diese Sachlage - ohne einer mathematischen Formel und dem erhobenen Zeigefinger des Oberlehrers. Dafür mit dem exotischen Charme des Orients und der "fabelhaften" Weisheit einer alten Sage.

Ob diese morgenländische Erzählung nun aus Indien oder arabischen Ländern stammt, ob es sich um Weizen- oder Reiskörner gehandelt hat - der Sinn der Mythe scheint dieselbe zu sein. Professionelle Schachspieler mögen vielleicht einwerfen, dass sich die Figuren und der Aktionsradius derselben in der Geschichte mehrmals geändert haben - so wichtig diese Detail sind: Sie sollen in einem anderen Bericht gewürdigt werden. Also: Es war einmal ein weiser Brahmane namens Sissa ibn Dahir. Dieser bemerkte seit geraumer Zeit, dass der tyrannische Herrscher Shihram sein Volk unterdrückte. Die Untertanen stöhnten, nach einigen Missernten machten sich im Land Not und Elend breit.

Sissa überlegte lange, was er tun sollte. Die Stimmung im Land setzte auch ihm sichtlich zu. Eines Nachts, als er wieder einmal nicht schlafen konnte, erdachte er sich ein Spiel, in dem die Spielfigur des Königs ohne die Hilfe seiner Mitstreiter nicht viel ausrichten kann. Eine Infanterie (Bauern) und eine Anordnung von schweren Kriegselefanten (Türme), Kamelen und Rössern (Läufer, Springer) schützen den Gebieter und verteidigen das Territorium. Sie können den Gegner, der natürlich mit gleichen Figuren ausgestattet ist, auch angreifen. Dicht beim König verbleibt zunächst der General, wobei dieser im Verlauf des Spiels den größten Bewegungsspielraum aller Figuren innehat (Dame).

Sissa nannte das Spiel Chaturanga, was so viel wie "vier Elemente" bedeutete – nicht umsonst bestand das altehrwürdige Heer der Inder aus vier Truppengattungen. Der Brahmane machte sich auf, um dem Herrscher das Spiel persönlich zu erklären. Mit dabei hatte er ein Brett mit 64 Feldern und kunstvoll geschnitzte Spielfiguren. Shihram gefiel diese Form der Unterhaltung, besonders weil sich auf dem Brett bei jedem Spiel eine andere Stellung der Figuren entwickelte. Man musste auf seine Spielfiguren gut aufpassen und sich darum kümmern, nicht allzu viele zu verlieren, so kostbar waren die Mitstreiter des Königs.

Der ehemals hartherzige Tyrann wurde einsichtig und milder. Er ließ das Spiel sogar im ganzen Reich verbreiten, damit jeder sehen konnte, dass er aus dem Spiel gelernt hatte. Dem weisen Brahmanen gewährte er als Dank einen Wunsch. Sissa überlegte kurz und sagte: "Gebt mir Weizenkörner. Auf dem ersten Feld des Brettes möchte ich ein Korn, auf dem zweiten die doppelte Anzahl, also zwei, auf dem dritten Feld vier Körner und so weiter." Shihram lachte Sissa ob des bescheidenen Wunsches aus – eigentlich war er erbost, dass sich der Brahmane kein wertvolleres Geschenk ausgedacht hatte.

Nach einige Tagen meldeten sich die königlichen Rechenmeister bei Shihram und erklärten, dass sie noch immer nicht die Menge der Weizenkörner berechnen konnten. Ein paar Tage später ging der oberste Rechenmeister mit ernstem Gesicht und einer langen Papierrolle in der Hand zu seinem König. "Mein Gebieter, so viele Weizenkörner gibt es in Eurem Reich nicht. Wahrlich, auf der ganzen Welt werdet Ihr diese Menge nicht finden. Es sind 18.446.744.073.709.551.615 Körner!" Shihram wollte das nicht glauben und war dabei, seinen obersten Rechenmeister wegzuschicken.

Da besann er sich reumütig und fragte den Rechenmeister kleinlaut, was er nun tun solle. Der Rechenmeister dachte kurz nach, runzelte die Stirn und sagte: "Mein Herr und Gebieter – Ihr könntet Sissa ibn Dahir bitten, die Körner einzeln nachzuzählen und persönlich abzuholen." Und die Moral aus dieser Geschichte? Nicht wenige Menschen haben sich vor ein paar Wochen lustig gemacht, dass die veröffentlichten Zahlen zum Coronavirus überhaupt keine Gefahr darstellen würden. Im Gegenteil! Jede gewöhnliche Grippe sei doch viel gefährlicher.

In den letzten Tagen sind diese Stimmen etwas leiser geworden. Verstummt sind sie aber noch nicht. Vielleicht sollten diese Zeitgenossen sich die Legende vom Schachspiel zu Gemüte führen, zur Anschaulichkeit seien Mengen der Weizenkörner auf den ersten Feldern angeführt: 1 – 2 – 4 – 8 – 16 – 32 – 64 – 128 – 256 – 512 – 1.024 – 2.048 – 4.096 – 8.192 – 16.384 – 32.768 – 65.536 – 131.072 – 262.144 – 524.288 – 1.097.152 – 2.097.152 – 4.194.304 – 8.388.608 und so weiter.

Die Einwohnerzahl von Österreich beträgt ungefähr so viel wie die Anzahl der Weizenkörner auf dem 24. Feld. Wenn sich die Infektionsfälle alle zwei bis drei Tage verdoppeln, dann sollte uns doch endlich bewusst werden, dass sich nach wenigen Wochen alle Mitbürger mit dem Virus angesteckt haben werden. Ob nun eine exakte mathematische Formel oder eine sagenhafte Geschichte: Beide erklären ein Phänomen, das wir nicht mehr ignorieren können.

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