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Hat der Mensch den Rhythmus der Natur verloren?

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 25.07.2022, 08:02 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 14435x gelesen

Salzburg [ENA] Die Nacht zum Tag machen! Frische Erdbeeren im Winter! Jede Kost fertig und bequem an die Haustür geliefert! Klimatisierte Wohnungen und Autos! Günstige Fernreisen für jedermann! Mit dem mobilen Telefon überall und jederzeit kommunizieren! In unserer fortschrittlichen und modernen Welt scheinen wir Tag und Nacht, die Jahreszeiten, alle Zeit der Welt überwinden zu können. Warum wollen wir das eigentlich?

Und es ward Licht! Ferdinand I. befahl vor fast 500 Jahren (1561), dass niemand nach dem Klang der Bierglocke zu St. Stephan ohne Laterne durch die Straßen Wiens gehen durfte. Die strenge „pirglocke“ wurde übrigens schon im Stadtrecht von 1340 erwähnt: Wenn die Glocke erklang, mussten rasch die Schenken und Wirtshäuser geschlossen werden. Die „Gurgelabschneiderin“, wie die Glocke im Volksmund genannt wurde, rief die Stadtbewohner zum Heim- und anschließenden Schlafengehen auf. Am 8. Juli 1818 schließlich wurden in manchen Straßen (Krugerstraße, Walfischgasse, Kärntner Straße) die ersten Gasstraßenleuchten entzündet – man feierte die Gewinnung zusätzlicher Freizeit durch die Illuminierung der Nacht.

Ankommende brauchten ebenso keine Panik vor einem (zu) frühen „Torschluss“ haben – die Stadttore blieben nun länger offen. Für fromme Christen bedeutete diese Entwicklung – immerhin ging es auch um lasterhafte Vergnügungen zu später Stund’ – freilich einen Frevel gegen den göttlichen Willen. Der Umstand, dass die helle Jahreszeit eher warm, im Extremfall heiß, die dunklen Wintermonate hingegen zumeist kalt oder sogar sehr frostig waren, verliert mit elektrifizierten und klimatisierten Wohnungen zunehmend an Bedeutung.

Begriffe wie Advent, Wintersonnenwende oder Mariä Lichtmess (Beginn des Bauernjahres, das Tageslicht ist um eine Stunde länger als zu Weihnacht) als zentrale Bestandteile archaischer, antiker und altehrwürdiger Kulte und Religionen haben an Wichtigkeit und Sinngehalt für die moderne Gesellschaft schon lange ausgedient. Man bucht eine Fernreise, um dem ungemütlichen Winter „zu entgehen“. Auf exotischen Inseln freut man sich dann am Palmenstrand über ein paar lange, heiße Urlaubstage und eine prachtvolle Vegetation, während zuhause kurze, nebelig-kalte Tage und abgestorbene Pflanzen möglicherweise aufs Gemüt schlagen würden.

Skurril oder eigentlich bizarr wird es, wenn dieselben Zeitgenossen im Sommer Lust auf Schifahren verspüren und spontan zum nächsten Gletscherschigebiet „jetten“. Traditionelle Fastenzeiten, die die Natur vorgegeben und die Kirche kultiviert hat (Advent und Karzeit), wirken angesichts voller Geschäfte und Einkaufswagen zunehmend anachronistisch. Gerade wenn zu Weihnachten und Ostern die Supermärkte mit verführerischen „Deluxe“- und „Premium“-Produkten werben, will der Konsument von Askese, Mäßigung oder Enthaltsamkeit nichts wissen. Sinnvolles Fasten, aber auch Kochen mit regionalen und saisonalen Produkten dagegen erfordert Eigeninitiative, Phantasie und Disziplin:

Mitunter muss man mit wenigen Ingredienzien, mühevoll zu lesenden Rezepten und allerhand Improvisationskünsten eine Zeit lang in der Küche werken, um ein schmackhaftes Gericht auf den Tisch zu bringen. Wahrscheinlich haben wir (schon) verlernt, wie man Obst, Gemüse und auch Fleischprodukte richtig sammelt, konserviert und aufbewahrt. Heraufbeschworene und tatsächliche Krisenzeiten machen uns diesbezüglich sehr nachdenklich: Wenige Menschen wären heute in der Lage von in der Natur vorkommenden Pflanzen und Tieren zu leben – und unter diesen Bedingungen zu überleben!

Immer auf Draht! Das mobile Telefon scheint Tag und Nacht im Einsatz zu sein – im Sekunden- oder Minutentakt treffen aus aller Welt aktuelle „Breaking News“ bzw. spontane und vielsagende Botschaften der gesamten Bekanntschaft ein. Wenn das Handy surrt, kurz aufleuchtet oder akustische Signale abgibt, fällt der konditionierte Blick sofort auf das kleine Display: Sonst würde man ja etwas versäumen… In einer abgeschiedenen Naturlandschaft ist der technikaffine und trendige Mensch konsterniert, welch miserabler Empfang an diesem Ort doch herrscht.

Für die Schönheit und Anmut der Gegend, das behutsame Verweilen in der „leeren“ und urtümlichen Landschaft und das Innehalten im Jetzt bleibt offenbar kaum Zeit. Mitunter scheinen Menschen auch ihre unmittelbare und natürliche Umgebung zugunsten einer (oft trivialen) Tele-Kommunikation mit abwesenden Bekannten zu vernachlässigen. Zu denken gibt ferner, dass die Gehirnforschung längst herausgefunden hat, dass es Multitasking als Kompetenz oder Leistung gar nicht gibt, weil das Gehirn versucht die verschiedenartigen, eintreffenden Signale alle Millisekunden abwechselnd verschiedenen Arealen zuzuordnen, m.a.W. sich in einer permanenten Überbelastung befindet.

Dieser Umstand wird von manchen Zeitgenossen schlichtweg ignoriert: Gerade sie würden mehrere Aufgaben „locker“ zusammen erledigen können. Überdies – wer erfolgreich und wichtig sei, habe eben Stress! Mit Energy Drinks oder Amphetaminen übertaucht man zudem jede Erschöpfung. Mit und in der Natur lebende Menschen „gehen“ – neueren Forschungen zufolge – auch nicht immer mit oder nach der Sonne. Sie stehen nicht unbedingt bei den ersten Sonnenstrahlen auf und legen sich zudem nicht in der abendlichen Dämmerung sofort zum Schlafen nieder. Jedoch scheinen sie im Gegensatz zu unserer hoch zivilisierten Gesellschaft auf einen regelmäßigen und ausreichenden Schlaf zu achten. Chronische Schlafstörungen sind ihnen unbekannt.

Wenn es dunkel wird, produziert der menschliche Körper das aus Serotonin gewonnene Hormon Melatonin – und man wird müde. In den Wintermonaten ist es also völlig normal öfter ermattet oder etwas ruhebedürftig zu sein – und es ist durchaus gesund, etwas länger zu schlafen. Dadurch, dass das Melatonin in der Tiefschlafphase die Ausschüttung des Wachstumshormons Somatropin stimuliert und als Antioxidans wirkt, ist ausreichender Schlaf für die Gesundheit des Menschen wertvoll und wichtig. Schichtarbeiter und notorische Nachtschwärmer gehen deshalb eine Gefahr ein, langfristig zu erkranken.

Eine „Winterdepression“ muss man möglicherweise nicht sofort mit Medikamenten behandeln – vielleicht sollte man es stattdessen lieber mit einer Extraportion Schlaf, einigen Sonnenspaziergängen und Gelassenheit probieren. Nicht immer muss man auf Hochtouren durchs Leben hetzen. Über den Tod zu sprechen, fällt vielen Menschen schwer. Auch die Tatsache, dass wir vor unserer Geburt vermutlich nicht existierten, ist nicht leicht zu begreifen. Während die meisten Naturreligionen den unabwendbaren und vorbestimmten Kreislauf des Lebens – und Sterbens betonen, gibt es in der modernen Welt genügend Menschen, die vor dem natürlichen Zyklus des Verdorrens, Verblühens und Absterbens die Augen verschließen.

Vermutlich haben jene mit der eigenen Endlichkeit, Vergänglichkeit und dem Ableben ein größeres Problem. Das ewige Werden und Wandeln, ebenso der offensichtliche Spruch des Philosophen Heraklit, wonach alles fließt („Panta rhei“), deuten auf die alte Weisheit, wonach das Sein erst im Werden des Ganzen zu erreichen ist. Nur – wie sollen wir mit dieser Erkenntnis umgehen? Archaische Riten und Kulte sowie naturverbundene und urwüchsige Traditionen und Bräuche verbinden seit jeher biologische und soziokulturelle Faktoren zu vielsinnigen und vielgestaltigen Feiern. Offenbar haben wir aber den Zugang zu diesen Ritualen längst verloren.

Gerade die Feste im Jahreskreis haben dem Menschen immer geholfen sich in seiner (Um-)welt sinnlich und spirituell zurechtzufinden – sie gaben Halt und Orientierung. Möglicherweise benötigen wir heute den Rhythmus der Natur viel mehr als uns bewusst ist. Wir Menschen brauchen die Natur – sie uns nicht.

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