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Der Popsong – zwischen Geniestreich und Industrieprodukt

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 05.04.2021, 14:20 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 16137x gelesen

Salzburg [ENA] "Ich höre eigentlich alles - am liebsten Popmusik!" - Wie oft hört man diese Sentenz, die ja überhaupt keinen wirklichen Musikgeschmack erkennen lässt. Soll man unter dem Begriff "Popmusik" vielleicht populäre Musik verstehen, die ja noch nie vom Volk erfunden, musizierzt und weitergegeben wurde? Oder gefallen die Songs und Lieder einfach den allermeisten Menschen? Und was bitte ist ein Hit? Fragen über Fragen...

Die westliche Popmusik dominiert den Musikkonsum und damit den Musikgeschmack vieler junger bzw. jung gebliebener Menschen – und das in vielen Ländern der Welt. Die meist englischsprachigen Songs haben sich vor allem deshalb massenhaft verbreitet, weil die Tonträgerindustrie, in weiterer Folge die unzähligen Rundfunk- und Fernsehstationen und zuletzt das Internet über Jahrzehnte nicht nur das Warenangebot, sondern auch die Distributionswege geschaffen, kontrolliert und gesteuert haben.

Was gehört wird, ist in der Regel keine aufgeführte Musik, sondern eine industriell und arbeitsteilig produzierte Ware. Als „Beweis“ für die Existenz eines Stars oder einer Band wird ein Song sporadisch auch live auf einer Bühne „performt“ – oft genug versucht man sich aber auch hier an einer Rekonstruktion des zuvor in Studios aufgenommenen Liedes. Was wird nicht alles in einen erfolgreichen Song hineininterpretiert! Wohlmeinende Insider wollen wissen, dass dem Autor und Komponisten die denkwürdigen Zeilen, das entscheidende „Riff“ oder gleich die ganze Melodie des Refrains in einem entscheidenden Moment, romantisch verklärt, in Folge eines Musenkusses, „eingefallen“ seien.

Außerdem spiegle der Song die gesellschaftskritischen Gedanken des Künstlers wider und rufe alle Fans zum Nach- und Umdenken auf. Als Sympathisanten rühmen sie die charakteristische Stimme des Sängers (der Sängerin), ihr unglaubliches Timbre, loben den einzigartigen Sound der E-Gitarre oder überhaupt das originelle Klangkonzept der Band bzw. schätzen die Aussagekraft („Message“) des poetisch relevanten, weil ausdrucksstarken und ästhetisch feinsinnigen Kunstwerkes. Kritiker dagegen geben zu bedenken, dass der Song prinzipiell ja nur deshalb bekannt ist und gehört wird, weil er von einer global agierenden Musikindustrie in Zusammenarbeit mit einer ebenfalls auf Profit ausgerichteten Medienlandschaft produziert und beworben worden ist.

Von den vielen 100.000 Songs, die jeden Monat weltweit komponiert, aufgenommen und produziert werden, werden in internationaler Einigkeit lediglich nur eine Handvoll „on Air“ gestellt – und genau diese Musiknummern erlangen, wiederum zu einem verschwindend kleinen Teil, infolge eines ausgeklügelten Marketings und massiver Werbung, einen Kultstatus. Was bekannt ist, wird schließlich gekauft – und umgekehrt.

Im Gegensatz zur so genannten „Ernsten Musik“, in der bei der Komposition eines Musikstückes die „Vorstellung der verschiedenen Tonverhältnisse in der Phantasie des schaffenden Künstlers“ (Hugo Riemann) wie die über Jahre erlernte und hoch qualifizierte Technik des „Tonsetzens“ eine große Rolle spielen, greift bei einem Popsong neben dem eigentlichen Künstler ein Tontechniker und Produzent als letztlich Verantwortlicher, sowohl bei jeder einzelnen Tonspur als auch beim gesamten Sound, zu allerhand technischen Hilfsmitteln. Die „Echtheit“, „Einmaligkeit“ und „Unnahbarkeit“ – so die Eigenschaften eines Kunstwerkes (nach Walter Benjamin) – werden hier großteils in Frage gestellt:

Die meisten Instrumente werden digital mittels Sampler eingespielt, rhythmische Unsicherheiten können problemlos „quantisiert“, m.a.W. perfekt korrigiert werden. Einer nicht gerade brillierenden Stimme kann ebenfalls nachgeholfen werden: Mit einer „Nachbehandlung“ unter Zuhilfenahme von Equalizer, Aural Exciter, Chorus und vielen anderen Effekten wirkt eine müde Stimme sogleich interessant, Intonationsschwierigkeiten oder gänzlich falsche Töne können durch eine stufenlose Tonhöhenmodulation ebenfalls zurecht „gepitcht“ werden – alles eine Frage der technischen Ausrüstung und der verfügbaren Zeit.

Zudem kennen sich die einzelnen Musiker eines Songs oft nicht einmal, entsprechende Files werden zwischen den Studios herumgeschickt, verschiedene „Mischungen“ („Mix up“ bzw. „Mastering“) wandern desgleichen den digitalen Highway von London über Los Angeles zurück nach Wien oder München. Dieser Aufwand verursacht zusammen mit dem Marketing enorme Kosten: Geld, das durch den Verkauf der Tonträger bzw. kostenpflichtige Downloads und Reklame wieder hereingebracht werden muss!

Dass zwischen Plattenfirmen, Elektronikkonzernen, Medienunternehmen und der Werbeindustrie dichte und diskrete Netzwerke entstanden sind, die den beteiligten Firmen und Konzernen das Geschäft erleichtern bzw. das unternehmerische Risiko verringern, wundert angesichts der erheblichen Ausgaben für ein einziges Produkt nicht. Nachdem eben nur das gekauft wird, was auch bekannt ist, benötigt vor allem die Präsentation des Produkts einen gewaltigen finanziellen und materiellen Aufwand. Dieses bekannte Phänomen der Warenästhetik ist in der Popmusik nicht zuletzt deshalb zu beobachten, weil es eine marktübliche Produktions- und Preiskonkurrenz in der Musikbranche ja nicht wirklich gibt:

Ein Song bzw. ein Tonträger lässt sich nicht wirklich hinsichtlich seiner Qualität (kompositorische Machart, Beschaffenheit und Form des Arrangements, Interpretation, Art und Aufbau des Textes…) mit einem anderen vergleichen. Daneben entscheiden sich Fans im Allgemeinen nicht aufgrund eines bestimmten Preises, einen „billigen“ Song zu kaufen und eine „teuere“ Produktion zu meiden.

In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, dass die Musik, der Song mit dem Interpreten (der Band) zu einem Markenzeichen – so genannte Brands repräsentieren immerhin Identität und Identifikation – verschmilzt, wobei die Persönlichkeit des Musikers oder der Band mittels einer Imagekampagne und einem längerfristig wirksamen Marketingkonzept (Aufbau eines Kultes) im Fokus der medialen Präsenz steht: Findige Medienspezialisten erstellen zu der Musik ein prägnantes äußeres Erscheinungsbild des Stars, betonen modische Extravaganzen (etwaige Körpermodifikationen), auffällige Gewohnheiten und fertigen so ein unauslöschliches Gesamtbild („Corporate Identity“).

In gewissen zeitlichen Abständen werden die Fans mit spektakulären Neuigkeiten über den Künstler versorgt, da sonst in der Fülle der medialen Befeuerung ein Vergessen bzw. notwendiges Verdrängen einsetzt. Das Auge isst respektive hört bekanntlich mit – der simple Satz gilt auch für die populäre Musik: War es in der Frühzeit das Kino („Blackboard Jungle“, Elvis und Beatles-Filme…), nahm in den 1980er Jahren das „Music Television“ den Betrieb auf. Zusammen mit Werbesponsoren (Softdrinks, Mode, Kosmetik, Lifestyle…) erreichte man (vor allem junge) Käuferschichten, die ihre Kultur vor allem auf den Konsum von bestimmten Waren begründete, die kaufkräftige Altersgruppe der 12-20jährigen.

Heute entscheidet die Plattform „Youtube“ oft über Sein oder Nichtsein eines Songs. Gleichwohl lassen sich Popsongs nicht unbegrenzt „in der Retorte“ erzeugen. Auch wenn die „Ingredienzien“ eines durchschnittlichen Popsongs – ein einprägsames Riff, eine hinreißende Melodie und ein paar „dazupassende“ Akkorde – einem musikalisch halbwegs interessierten Menschen sehr leicht zu erklären sind, wären Kritiker (und moralisierende Musikwissenschaftler) wohl kaum in der Lage, selbst einen Hit zu schreiben bzw. einen Popsong auf die Bühne zu bringen. Um einen guten Song zu komponieren, arrangieren und zu produzieren bedarf es augenscheinlich doch gewisser Fähigkeiten und Erfahrungen.

Zudem passieren in der populären Musikkultur zur Überraschung vieler immer wieder ungeplante Entwicklungen oder radikale Änderungen des Publikum¬geschmacks: Regionale Nachwuchskünstler etablieren sich kurz- oder mittelfristig in den Charts, selbstproduzierte Videos in brachialer Originalität, aber bescheidener Qualität werden in bestimmten Internetforen „gehypt“ und relativ unbekannte Bands entpuppen sich bei Festivals als große „Stimmungskanonen“. Warum das so ist, ist schwer zu erklären – möglicherweise ist auf den Geschmack und die Neugier der Popmusikhörer doch Verlass!

Das werbepsychologische Phänomen „MAYA“ („Most Advanced, Yet Acceptable“), wonach sich ein Konsument für ein neuartiges Produkt genau dann am meisten begeistert, wenn auch sein (über lange Zeit entwickeltes) Schönheitsgefühl angesprochen wird, scheint auch in der Popmusik zu funktionieren. Die Autoindustrie hat diesen Sachverhalt ja schon lange durchschaut: Ein neuer VW-Golf weist natürlich gewisse Neuigkeiten auf (am besten ein paar innovative "Eyecatcher") - er muss dabei aber immer noch "wie ein Golf" aussehen. Quod erat demonstrandum.

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